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Bis nichts mehr ging: Protokoll eines Ausstiegs (German Edition)

Bis nichts mehr ging: Protokoll eines Ausstiegs (German Edition)

Titel: Bis nichts mehr ging: Protokoll eines Ausstiegs (German Edition)
Autoren: Matthias Onken
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erkundete die Stadt. Wir hatten oft Besuch von alten Freunden, gingen viel aus, in Kneipen und Techno-Clubs wie das «Front» oder das «Gaswerk». Nach ungefähr einem Jahr zog ich mit Karsten zusammen, einem anderen Schulfreund, der Biochemie studierte. Wir waren weiter im Nachtleben unterwegs, spielten Squash und diskutierten danach in der Sauna über Frauen, Partys und Politik.
    Auf ein halbes Dutzend Praktikumsbewerbungen bei den großen Zeitungen Hamburgs hatte ich nur Absagen kassiert. Ich war frustriert, denn mein Traum hatte mich nach wie vor begleitet: Reporter sein. Über große Ereignisse berichten, Nachrichten live erleben, Skandale aufdecken, Einfluss nehmen, wichtige Menschen treffen, fürs Schreiben Geld kriegen. Am besten bei einer Boulevardzeitung. Selbst las ich lieber Süddeutsche oder Spiegel , aber die plakativen Inszenierungen in BILD gefielen mir. Ich guckte sonntags oft den Presseclub und freute mich, wenn dort jemand von einer Boulevardzeitung dabei war und meist viel weniger steif und diplomatisch wirkte als die anderen. Viele der Journalisten, die im Fernsehen auftraten, bewunderte ich. Sie motivierten mich, nicht aufzugeben. Ich eröffnete eine neue Bewerbungsrunde und klopfte diesmal auf den Rat eines Bekannten hin nicht gleich bei den namhaften Blättern, sondern bei einer Umlandzeitung an.
    Ich war gerade dreiundzwanzig geworden, als ich zwei Tage vor Studiumsbeginn eine Zusage für ein Praktikum bei einer Tageszeitung in einem Hamburger Vorort bekam. Dort war jemand abgesprungen, ich könne praktisch sofort anfangen. Ohne zu zögern ließ ich den Platz an der Uni sausen.
    Gleich am zweiten Tag in der Redaktion des Pinneberger Tageblatts sollte ich einen Termin für das Lokalressort übernehmen. In einer Kleinstadt drohte die Rotkreuz-Rettungswache aus Kostengründen geschlossen zu werden.
    «Hör dir die Pressekonferenz an und schreib auf, was dir wichtig erscheint. Alles andere kriegen wir morgen gemeinsam hin», gab mir die Redakteurin, die sich um mich kümmern sollte, mit auf den Weg.
    Mein erster Einsatz als Reporter mit Block, Stift und Kamera! Ich war sehr nervös, versuchte aber, mir nichts anmerken zu lassen, als ich die wütenden Mitarbeiter interviewt und die Verantwortlichen nach ihrer Verantwortung gefragt habe.
    Am nächsten Tag wurde mein Thema in der Konferenz als Seitenaufmacher ausgewählt. Mir sackte das Herz in die Hose, ich konnte mich kaum auf die Zusammenfassung meiner Recherchen konzentrieren. Ich hatte keine Ahnung, ob ich es gut oder schlecht machte, doch die Redakteurin war zufrieden. Gemeinsam redigierten wir meinen Text, und ich erfuhr, worauf es beim journalistischen Schreiben ankommt: Die Nachricht gleich am Anfang, Zahlen, Daten, Fakten; dann Hintergründe, Zitate, Gegenstimme, hinten das Unwichtige, das sich bei Platzmangel schnell kürzen lässt. Eine klare, leicht verständliche Beschreibung des Sachverhalts in einfacher Sprache, keine Fremdwörter, keine Schachtelsätze mit mehr als zwei Kommas, keine Kommentierung im Bericht.
    Der Text erschien unter meinem vollen Namen. Ich schnitt die Seite aus und war stolz auf meinen ersten Artikel.
    Ich durfte weitermachen, wurde auf immer mehr Termine geschickt. Zwei Wochen später setzte ich meinen ersten eigenen Themenvorschlag um: «Halluzinogene Pilze – die Droge von der Kuhweide» . Dass ich die Dinger ein halbes Jahr zuvor mit Freunden selbst probiert hatte, sagte ich niemandem. Der Chef der Lokalredaktion erklärte mir, dass die Kunst des Schreibens darin bestünde, aus kleinen Themen große Geschichten zu machen. Wichtig sei es, sich den Themen nicht überheblich, sondern interessiert zu nähern.
    «Wenn du das überzeugend beherrschst, wirst du überall bestehen.»
    Das brannte sich mir ein. Jahre später habe ich diesen Grundsatz meinen eigenen Volontären gepredigt.
    In meinem sechswöchigen Praktikum arbeitete ich wie bescheuert. Morgens ab neun, abends manchmal bis zehn, Montag bis Freitag und oft noch am Wochenende. Jetzt war ich drin im Geschäft. Diese Chance wollte ich unbedingt nutzen. Zur Belohnung wurde ich freier Mitarbeiter, ein halbes Jahr später bekam ich einen Vertrag als Pauschalist. Für den Verlag war das günstiger, als mich für meine vielen Artikel einzeln zu honorieren oder mich ordentlich anzustellen. Weil ich mich darüber zwei Jahre nicht beschwerte, gab mir der Chefredakteur ein Volontariat.
    Die Redaktion war klein, viele Kollegen waren schon lange dabei, und ihr
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