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Birne sucht Helene

Birne sucht Helene

Titel: Birne sucht Helene
Autoren: Carsten Sebastian Henn
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Mutter und der großen, blauen Augen seines Vaters. Das Problem war nur, dass er überhaupt kein Gefühl für Kleidung hatte. Dass Strickpullis nicht mehr der letzte Schrei und Herrensandalen als »mega-out« galten, war bei ihm leider nie angekommen.
    Im Wartezimmer saß die übliche Mischung aus chronisch Verschnupften, schwatzhaften Hypochondern und Zombies. Pauls Urgroßtante war auch eine von denen. Jeden Tag zum Onkel Doktor, und wenn der zuhatte, kippte sie sich eimerweise Klosterfrau Melissengeist hinter die Binde. Das verlieh ihr immer ein jenseitiges Glitzern in den Augen.
    Die Zeit im Wartezimmer verging wie im Flug. Einem Langstreckenflug. Mit Zwischenstopp.
    Eine ältere Kittelträgerin brachte Paul schließlich ins Sprechzimmer. Natürlich musste er dort wieder warten. Immerhin lag auf dem Arztschreibtisch der Express . Er traute sich nicht, die Zeitung zu nehmen, schließlich hätte Dr. Engels ja jeden Augenblick mit seiner forschen Art reinkommen können. Aber die Überschrift konnte er lesen: Das ging in die Hose. Aus Versehen: Mann schießt sich in Penis. Aua.
    Diese Info gab ihm zu denken.
    Vielleicht war der Unglückliche ja bei Dr. Engels in Behandlung? Er würde ihn gern fragen, wie es war. Man kam ja so selten dazu, sich in den Penis zu schießen.
    Der Meister des Schmerzes trat plötzlich ein, die Hand wie ein Schwert ausgestreckt.
    »HerrBirnbaum«, begrüßte er Paul, »haben Sie sich verlaufen? Das Bestattungsunternehmen ist nebenan.«
    Herzlich wie eh und je. Dr. Engels hatte schon vor Jahrzehnten entschieden, dass Mitgefühl seine Patienten nicht heilte.
    Paul betete seine Beschwerden herunter, als hätte er etwas zu verkaufen: Müdigkeit, Knochenschmerzen, Verdauungsprobleme und Zahnfleischbluten. Es folgte die übliche Auszieh- und Untersuchungs-Prozedur. Danach ließ sich Dr. Engels in den rollbaren Ledersessel fallen und grinste breit.
    »Skorbut.«
    »Skorbut?«
    »Soll ich es Ihnen aufschreiben?« Dr. Engels klickte mit seinem Kugelschreiber.
    »Sie haben gerade Skorbut gesagt, oder?«
    »Eine Mangelerscheinung, die früher unter Seeleuten äußerst verbreitet war.«
    »Ich bin aber kein Seemann. Ich arbeite beim Straßenverkehrsamt. Bei uns gibt es nur dann größere Wassermengen, wenn Kollege Brömser mal wieder das Klo verstopft hat. Ich kann also keinen Skorbut haben.«
    »Die Behandlung ist ganz einfach.«
    Paul atmete durch. Na, wenigstens etwas. »Vielleicht habe ich ja doch Skorbut.«
    »Einfach Vitamin-C-Tabletten nehmen, bekommen Sie überall. Brauchen Sie kein Rezept für. Sie können aber auch Zitronensaft pressen oder Kiwis essen. Grünkohl und Rosenkohl sind auch gut – aber nur roh! Die weisen alle viel Vitamin C auf. Wie ernähren Sie sich aktuell?«
    Paul redete nicht gerne darüber. Aber wenn ein Arzt fragte, gestand man ja alles. Ganz automatisch. Wie vor Gericht.
    »Von Coke light und Cornflakes. Da ist alles drin. Viele Kohlenhydrate aus Getreide und Vitamine und Eisen – für einen guten Startin den Tag.« Den Spruch las er jeden Tag auf der Packung. Sehr eingängig.
    »Und sonst?«
    »Nichts sonst. Ist ja alles drin. Was soll die Frage?«
    Dr. Engels starrte ihn lange an.
    »Nur Cornflakes und Cola?«
    »Abends auch mal eine Pizza oder so. Und natürlich Nüsse. Diese salzigen.« Wieder dieser Blick. Paul meinte sogar, Dr. Engels’ Augen würden hervortreten. »Ich geh dann mal. Kann ich morgen zur Arbeit oder bin ich ansteckend?«
    Dr. Engels fing sich wieder. »Sie haben Skorbut und nicht die Schweinegrippe!«
    Als Paul aus dem Behandlungszimmer trat, lächelte ihn die nette Sprechstundenhilfe wieder an, doch diesmal mitleidig. Na ja, dachte Paul, so was passierte wohl allen Seemännern mit Skorbut. Wenn die Gliedmaßen vermodern und die Zähne ausfallen, verliert auch der strammste Matrose seinen Schlag beim weiblichen Geschlecht.
    Nachdem er sich im Supermarkt die überlebenswichtigen Zutaten besorgt hatte, ging es in die Buchhandlung. Ein Kochbuch für Stümper, das brauchte er. Idiotensicher und Vitamin-C-reich. Ein Kiwi-Kochbuch zum Beispiel. Gab es natürlich nicht. Dafür Werke von Fernsehköchen und stapelweise Backliteratur. Das Buch Kochen mit Feng-Shui schlug Paul gar nicht erst auf. Er konnte sich schon denken, was drinstand: Geben Sie nie eckig gefrorenen Spinat in einen runden Topf! Es sei denn der Kochherd hat drei Platten, steht in südlicher Richtung am Fenster und gegenüber liegt eine Tür, die sich nach links öffnen
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