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Binärcode

Binärcode

Titel: Binärcode
Autoren: Christian Gude
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schützten, nicht auf dem Präsentierteller dar. Keine Namen, keine Hausnummern, diskret montierte Videokameras, die die formale Strenge der Fassadengliederungen nicht störten. In zehn oder 20 Jahren würde hier wahrscheinlich Darmstadts erste Gated Community entstehen.
    Rünz fluchte, als er vor dem Haus stand, eine in schwarz patiniertes Zinkblech gehüllte, zur Straßenseite fast fensterlose Skulptur auf einem schmalen Betonsockel, mit dem für Gewerbebauten typischen Sheddach. Vielleicht hatte ihm die Sicherheitsbeamtin am Eingangsportal des ESOC-Geländes die falsche Adresse gegeben, und das nach all der Mühe, die er sich gegeben hatte, um sie weichzuklopfen. Er hatte mit improvisierter hessischer Mundart von den abgehobenen Sesselfurzern in der Chefetage des Präsidiums gesprochen und tatsächlich so etwas wie kumpelhafte Solidarität zwischen ihm und ihr herstellen können, schließlich arbeiteten sie beide für die Sicherheitsbranche. Sie schien dankbar für etwas Ablenkung, war ins Plaudern gekommen, hatte von den Eigenarten und Spleens der Mitarbeiter des ESOC erzählt. Aus ihren Äußerungen konnte er schließen, dass in Darmstadt für den nächsten Tag eine kurzfristig organisierte Sondersitzung von ESA mit Entscheidungsträgern und Wissenschaftlern aus ganz Europa angesetzt war, und Sigrid Baumann hatte am Vorabend zu einem privaten Empfang geladen.
    Rünz ging ein paar Schritte weiter zur Ostseite des Gebäudes, wo eine schaufenstergroße Glasscheibe einen Blick ins Innere freigab. Und dann sah er sie inmitten einer Gruppe leger gekleideter Männer und Frauen aller Altersgruppen, in den Händen Gläser mit Orangensaft und Mineralwasser, angeregt diskutierend. Keine Partystimmung, eher der entspannte wissenschaftliche Diskurs am Rande einer Antrittsvorlesung.

     

     
    * * *

     

     
    Sie hatte von fünf Minuten gesprochen, jetzt wartete er schon fast eine halbe Stunde. Die Hosenbeine tauten langsam, der nasse, kalte Stoff klebte ihm an den Beinen. Rünz schaute sich um. Sigrid Baumanns Innenarchitekt litt entweder unter einer dissoziativen Persönlichkeitsstörung, oder er vertrat eine Art fundamentalistischen Eklektizismus, was letzten Endes auf das Gleiche hinauslief. Die Gebäudehülle, Foyer und Arbeitsbereich entsprachen einer zeitgemäßen, transparenten und intelligenten Zweckarchitektur; der Teil, in dem Rünz saß, war eine Zeitreise zu einem britischen Upperclass-Club des frühen 19. Jahrhunderts. Regency-Möbel aus dunklem Mahagoni und Palisander mit den Gebrauchsspuren zweier Jahrhunderte, mit aufwendigen Fadenintarsien und Beschlägen aus gegossenem Messing und feuervergoldeter Bronze, Löwenmasken als Griffe und Tatzenfüße, Stühle und Tische mit Säbelbeinen, Wandmalereien, marmorne Hermen mit antiken Köpfen. Kalter Zigarrenrauch und die muffigen Ausdünstungen der ledernen Folianten in den Bücherregalen juckten ihn in der Nase, er nieste. Die Minuten verstrichen, ihm wurde langweilig. Schließlich stand er auf, schlenderte an den Regalen entlang und studierte die Bücherrücken. Die Geburtshelfer der modernen Teilchenphysik waren lückenlos repräsentiert mit Originalausgaben, Faksimiles, alten Vorlesungsskripten und gebundenen Sammlungen wissenschaftlicher Zeitungen aus den 20er- und 30er-Jahren – neben Einsteins Arbeiten standen Niels Bohrs Forschungen über die Atomstruktur, Erwin Schrödingers Wellenfunktion zur Beschreibung von Quantensystemen und Werner Heisenbergs Arbeiten zu Unschärferelation und Quantenfeldtheorie. Zwischen all den Antiquarien fiel ihm ein modern anmutendes Werk in brauner Taschenbuchbindung auf. Der Band war fest eingezwängt zwischen den mächtigen wissenschaftlichen Werken, er musste mit aller Kraft daran ziehen.

     
    How to Survive in Space
    by Madeleine Schäfer

     
    Er setzte sich. Die Autorin war offensichtlich eine langjährige Mitarbeiterin des ESOC und seiner Vorgängerorganisationen, sie hatte akribisch Anekdoten, Fakten, Zitate und Bilder zusammengetragen, mit denen sie die Geschichte der europäischen Raumfahrtaktivitäten in Darmstadt chronologisch erzählte – vom 1963 mit drei Mitarbeitern gegründeten European Space Data Center ESDAC im Deutschen Rechenzentrum in der Rheinstraße bis zum Start der Cassini/Huygens-Mission 1997. Die Fotos im Mittelteil gaben einen Eindruck vom Improvisationstalent und Gründergeist der ersten Generation europäischer Weltraumforscher und ihren weltweiten Arbeitsplätzen – selbst auf den
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