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Bilder von A.

Titel: Bilder von A.
Autoren: Carl Hanser Verlag
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Beinen, langen Beinen bestand, mit denen er in einem schnellen Satz auf die Bühne springen, abenteuerlich Fahrrad fahren und Gletscher erklimmen konnte. A., das Fluchttier. Wenn wir nebeneinander gingen, mußte er mühevoll seinen stürmischen Schritt verlangsamen und ich mußte rennen.

 
    Jeden Sommer bekam ich von A. eine Ansichtskarte aus den Alpen, meistens aus den Dolomiten.
    Schon sein allererster Brief aus dem Westen kam mit einer italienischen Briefmarke. Er hatte den Brenner überquert (wie Goethe!), aber auf der anderen Seite der Alpen noch keine Zitronen-, aber Kirschbäume blühen sehen, es war Februar. Auch er in Arkadien und so euphorisch, daß er sich in die erstbeste alberghetto einquartiert hatte, um von dort den nächsten hohen Berg zu besteigen. Er war losgestürzt, in Turnschuhen, ohne jede Ausrüstung, wie er schrieb, und als er unterwegs einen Mann in irgendeinem Hilfsitalienisch noch einmal nach dem Weg gefragt hatte, hatte der erst auf den Berg, dann auf A.s Schuhe gewiesen und dabei heftig mit dem Kopf geschüttelt, mit den Händen gefuchtelt und viele unverständliche Wörter hervorgestrudelt, die verneinenden, warnenden Gesten jedoch hatten unmißverständlich die Absicht, ihn von einem Aufstieg abzuhalten.
    A. war aber nicht abzuhalten, er war weiter und immer weiter gestiegen, immer höher, bis fast ganz oben. Doches hatte zu dämmern angefangen, er hatte keine Karte, und Menschen waren ihm auch nicht mehr begegnet, auch bestand um diese Zeit vielleicht Lawinengefahr. Er hatte ja keine Ahnung. Er kam aus der Ebene am Rande von Übersee. So war er umgekehrt. Ein paar Jahre später aber hat er diesen Berg dann doch noch bis zum Gipfel erstiegen, denn der Mißerfolg der ersten Besteigung nagte noch lange an ihm.
    Vielleicht liebte A. die hohen Berge, weil er aus der pommerschen Ebene stammte, wo der kleinste Hügel keine zehn Meter hochragt. Diese unendlich ausgedehnte Fläche erkannte er als seine Heimat oder wenigstens Herkunft an und hohe Berge als eine Herausforderung, der er sich stellen mußte, denn er suchte Herausforderungen. In der DDR gab es höchstens den Harz und den Thüringer Wald, deren Gipfel an kaum einer Stelle einmal tausend Meter übersteigen, das war so lächerlich wie die ganze DDR und keine Herausforderung. Berge sollen in den Himmel ragen, an Wolken kratzen oder sich von ihnen bekränzen oder verschleiern lassen. Sollen Gletscher sein mit ewigem Schnee. Gipfel, die da seit Jahrhunderten und Jahrtausenden stehen und auf unsere Vergänglichkeit und unsere Lächerlichkeit herabsehen, auf unser kleines Leben, das wir verbringen wie ein Geschwätz .
    A. suchte aber nicht nur die Herausforderung, sondern wohl auch die Grenze, das Extrem und die Gefahr, sogar die Lebensgefahr. Einmal im Jahr muß ich mich in Lebensgefahr begeben, hat er behauptet, und ich glaube,er meinte es ernst. Er war kräftig, gesund, hatte keinerlei körperliche Schwäche, wenn man von den Kopfschmerzen absieht, die aber von der Seele kamen; er war beweglich, leichtfüßig, hochbeinig, gut trainiert vom vielen Fahrradfahren und schnell wie alle Fluchttiere, Antilopen, Gazellen, Giraffen, aber er war auch ausdauernd und stark, wie die, von denen sie gejagt werden, Löwen, Tiger, Leoparden. Jedenfalls hatte er, als er in den Westen kam, zuerst einmal in die Alpen aufbrechen müssen, wenigstens für ein paar Tage.
    Später verbrachte er die Theaterferien jedes Jahr in den Dolomiten, da, wo sie am höchsten und am schroffsten sind, und legte sich mit den Jahren sogar eine professionelle Bergsteigerausrüstung zu. Das weiß ich, weil das einzige Foto, das er mir je von sich geschickt oder geschenkt hat, ihn in dieser Ausrüstung zeigt, über den Wolken auf einem Gipfel stehend, den er »Marmolada-Gipfel« nannte. Ich dachte natürlich, das sei ein Witz und er wolle auf »Möchtest du Käse oder Marmelade« anspielen, aber der Gipfel heißt tatsächlich so, ich habe es in einem Atlas nachgeschlagen. Hinter ihm ist auf dem Foto eine Gebirgskette zu sehen, die ihm bis zum Bauch reicht, zu seinen Füßen eine geschlossene Wolkendecke und ab dem Bauch weitet sich nur noch ein hoher blauer Himmel, so ähnlich wie beim Mönch am Meer , blau wie seine Augen und sein Pullover auf dem Bild vom Nichtraucher . A. hat seine Mütze tief in die Stirn gezogen und ist in Schnüre, Seile, Haken, Gürtel, Gurte, Knoten, Spangen und Strippen verstrickt, trägt dicke Handschuhe,eine riesige verspiegelte Sonnenbrille auf der
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