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Berge versetzen - das Credo eines Grenzgängers

Berge versetzen - das Credo eines Grenzgängers

Titel: Berge versetzen - das Credo eines Grenzgängers
Autoren: BLV Buchverlag GmbH & Co. KG
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– Energie, Enthusiasmus und Emotion
    R – Risikobereitschaft
    Das Wort »Abenteuer« benütze ich in diesem Zusammenhang deshalb nicht mehr, weil es verbraucht ist, ausgehöhlt, ohne Inhalt. Jeder kann heute eine Reise buchen, die im Katalog als »Abenteuer« verkauft wird. Das organisierte Abenteuer aber ist ein Widerspruch in sich.
    Die Verantwortung abschieben und sich als Heldendarsteller gebärden reizt nur Nachsteiger. Das »Abenteuer« im Reiseangebot ist nichts als ein Trick. Es soll eine Klientel ansprechen, die mehr will, als sie zu wagen bereit ist: die Möchtegern-Eroberer.
    Der Vorsteiger ist auch ein Vor-Denker. Ich möchte von mir nicht behaupten, ein Leader zu sein. Mir liegt es nicht, Gruppen zu dirigieren oder mit meinem Know-how zu führen. Wenn ich selbst mitmache, kann ich jedoch andere mitreißen. Ich habe, allein um die 14 Achttausender besteigen zu können, 30 Expeditionen unternommen. Zwölfmal bin ich gescheitert. 18-mal habe ich den Gipfel erreicht. Und immer, wenn jemand in einer dieser 30 Expeditionen auf den Gipfel kam, war ich dabei. Ich konnte meine Partner also durch das Vorsteigen, das Mitsteigen, das Agieren führen. Nicht mit dem Funkgerät vom Basislager aus, wie 1989 am Lhotse.
    So widersprüchlich es klingt, vor allem im Zusammenhang mit meiner Person: Ein Leader zeigt mehr Sensibilität als die anderen. Deshalb weiß er die Schwächen und Stärken seiner Partner genau einzuschätzen und dem Ganzen entsprechend einzusetzen. Wird es kritisch, steht er als ruhender Pol in einer Mannschaft und hilft selbst, die kritischen Situationen zu meistern. Anreiz und Dirigismus setzt er seinen Partnern gegenüber individuell und situationsbezogen ein. Er nützt dabei Schwächen und Zweifel seiner Mitsteiger nicht, um sein Leadership zu behaupten. Er nützt seine Überlegenheit, die Fähigkeiten und Stärken aller zum Tragen zu bringen.
    Der Leader stiftet vor allem Selbstverständnis. Indem er seine Leute durchschaut, auf sie eingeht, sie zu einem gemeinsamen Ziel mitnimmt, kann er zum Sinnstifter werden. Mehr noch, er vertritt ihre Gesinnungsethik, der alle im Team freiwillig folgen, die jeder wieder als die seine empfindet.
    Das daraus entstandene Gruppenselbstverständnis, das wenigstens so lange andauert, wie das Ziel nicht erreicht ist, lässt alle wachsen. Im Idealfall über sich selbst hinaus. Die Verantwortung für den Leader wächst damit allerdings in eine andere Dimension. Die ethische Frage dazu will ich nicht beantworten. Dafür stelle ich mich einer anderen Diskussion: der über die Verantwortung meiner Familie gegenüber.
    Meine Kinder sind da. Trotzdem muss ich die Frage, ob ich es verantworten kann, weiter als Grenzgänger unterwegs zu sein, umdrehen: Könnte ich es verantworten, nicht zu tun, was ich tue? Wen hätten meine nächsten Angehörigen dann zu ertragen? Ich wäre nicht mehr ich, wenn ich nicht mein Leben führen könnte. Ich wäre auch nicht mehr dieser Vater für meine Kinder. Die Tatsache, dass ich eine Familie habe, zwingt mich nicht, mein Leben völlig zu ändern, so weit zurückzunehmen, dass ich meine Persönlichkeit aufgebe. Auch als Familienvater habe ich das Recht, mein Leben zu leben.
    Durch meine kleinen Kinder bin ich, psychisch gesehen, stärker geworden. Denn ich kann sie auf Reisen mitnehmen, zumindest gedanklich. So habe ich sie zum Beispiel im Geiste in Grönland mit dabei. Ich nehme sie in einer meiner seelischen Etagen mit aus dem Traumende auf die Tagesetappe. Und sie geben mir Energie. In kritischen Momenten sind sie mir eine wesentliche Stütze, alles richtig zu machen, weiterzugehen, wieder aufzustehen, heimzukommen.
    Ich kann mich während einer Expedition mit den Kindern beschäftigen; die Kinder können es mit mir weniger. Das ist eine Ungerechtigkeit.
    Meine Frauen haben mich als Abenteurer, als besessenen Grenzgänger kennengelernt. Die Ängste bei mir zu Hause sind vermutlich nicht größer als bei einer Managerfamilie. Mein Tun ist auch nur scheinbar gefährlicher als das eines engagierten Managers. Ebenso viele Menschen aus meiner Altersgruppe und meinem Bekanntenkreis, die abgestürzt oder erfroren sind, sind auch an einem Herzinfarkt gestorben, im Auto ums Leben gekommen. Berufsrisiken? Es klingt paradox, aber Bergsteigen – mit kalkuliertem Risiko betrieben – ist nicht gefährlicher
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