Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Benny und Omar

Benny und Omar

Titel: Benny und Omar
Autoren: Eoin Colfer
Vom Netzwerk:
hatte. Die Tränen spritzten aus ihren Augen wie aus einer Spraydose und flossen über den Rand seines Kiefernsargs. Er versuchte, ihr zu sagen, dass sie aufhören solle. Dass alles in Ordnung sei. Dass er gar nicht tot sei! Aber sie hörte nicht zu. Jessica Shaw war untröstlich. Ihr Wehklagen kam direkt aus der Tragödie Reiter ans Meer. Hör auf Ma, rief er. Es geht mir gut. Aber plötzlich verstand er, dass sie gar nicht um ihn weinte. Sie weinte um ihre Maske. Er hatte die Maske verloren. Pat Shaw zwinkerte ihm zu. Bei Georgie werden wir uns noch mehr anstrengen, raunte er verschwörerisch. Das ist unsere letzte Chance. Wenn wir es bei ihm nicht schaffen, geben sie uns keine zweite.
    »Binny! Shuf. «
    Er öffnete die Augen. Kaheena brach ihr Schweigegelübde. Und nicht nur das. Sie holte all die Jahre nach, in denen sie nichts gesagt hatte. Das arme Mädchen war hysterisch. Sie schrie und wedelte voller Angst mit den Händen vor ihrem Gesicht herum. Omar umklammerte ihren dünnen Körper und flüsterte ihr ins Ohr. Es war zwecklos.
    Omar machte ein grimmiges Gesicht. »Drogen, Binny. Mush behee. Nicht gut.«
    Was blieb Benny anderes übrig, als zu nicken und zu helfen? Er wickelte seine Decke um Kaheenas degenerierte Beine und versuchte, ein bisschen Wärme in sie hineinzurubbeln. Omar streichelte ihre strähnigen Haare und küsste sie auf die Stirn. Es war leicht zu erraten, welchen Albtraum ihr gequältes Gehirn noch einmal durchlebte. Immer und immer wieder fuhr dieser Zug auf ihre Familie zu und krachte in ihren Pick-up.
    Auch Omar weinte jetzt. Weinte vor Hilflosigkeit und Enttäuschung. Nicht alles ließ sich mit einer Umarmung und einem Scherz heilen. Benny merkte, wie auch er von seinen Gefühlen übermannt wurde. Dicke Tränen kullerten aus seinen Augen und rannen seine Nase hinunter.
    Es schien kein Ende zu nehmen. Immer wieder wurde Kaheena eine Weile ruhig und wirkte, als würde sie mit offenen Augen träumen. Dann schüttelte sie ein Krampf und das Geheul brach von Neuem los. Ihr Körper bäumte sich auf und zuckte, als versuchte sie zu fliegen. Und was konnten die zwei Jungen tun, um ihr zu helfen? Alles, was sie über erste Hilfe wussten, stammte aus Baywatch.
    Wie in aller Welt war er hierher geraten, überlegte Benny. Von einem schnuckligen Kaminfeuer in Irland in diese Hölle. Vielleicht starb Omars Schwester sogar. Der Entzug dieser Drogen könnte ihr Gehirn auf Dauer schädigen. Und was wären sie dann? Mörder? Benny schauderte. Hör auf, befahl er sich selbst. Welchen Sinn hatte es, solchen Gedanken nachzuhängen? Morgen war er zu Hause. Morgen zu Hause.
    Nach zwei Stunden lief das Regenwasser innen an den Wänden herunter. Sie suchten sich auf dem unebenen Boden eine Stelle, die etwas erhöht lag, und ließen sich dort nieder. Die Gauner, die hier angefangen hatten zu bauen, hatten eine schlechte Zementmischung verwendet, denn der Fußboden löste sich in eine kalkige Schmiere auf. Die Jungen zogen sich in ihre erhöhte Ecke zurück und betteten Kaheena auf ihre Schöße. Sie konnten nichts tun als warten.
    Vier Stunden später kam der Augenblick. Der Augenblick, den Ma in ihren Erzählungen über das Kinderkriegen immer lang und breit ausmalte. Die Sekunde, die die ganze Mühe überhaupt erträglich machte. Benny hätte es nicht für möglich gehalten. Nichts auf der Welt konnte ihn für das, was er hier durchmachte, entschädigen. Jetzt teilte sich sogar noch eine Ratte das Zimmer mit ihnen. Konnte überhaupt irgendetwas diese Situation erträglich machen? Da könnte einem schon etwas einfallen: Es hört auf zu regnen, die Sonne linst hinter dem Horizont hervor. Ma und Dad stürzen herein und umarmen ihren Sohn. Sie schwören ihm ewige Liebe und beschließen, die Ben Alis zu adoptieren.
    Aber das alles geschah nicht. Es goss weiterhin in Strömen und ihr Unterschlupf drohte sich aufzulösen. Auch die Ratte, die mit ihrem nassen Fell wie ein Punk aussah, trippelte weiterhin unruhig umher. Kurz bevor die Sonne unterging, wurde Kaheenas Körper noch einmal von einem heftigen Krampf geschüttelt, aber dann glättete sich ihre Stirn. Omar wischte ihr mit Bennys durchnässtem Taschentuch das Gesicht ab.
    » Sh’nawalek , Kaheena«, sagte er einfach vor sich hin, ohne eine Antwort oder eine Reaktion zu erwarten. Er hatte die ganze Nacht vor sich hin gemurmelt.
    »Ena labas« , sagte Kaheena mit heiserer Stimme.
    Omar ließ vor Schreck fast ihren Kopf los. Und irgendwo in seinem Inneren fand
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher