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Beerensommer

Beerensommer

Titel: Beerensommer
Autoren: Inge Barth-Grözinger
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verstört herausgekrochen und hat ihren Opa befreit, der vor Angst halb tot war. Dann hat sie die Nachbarn alarmiert und bald war es im ganzen Dorf herum, dass die Frau Caspar so brutal vergewaltigt worden war. Mutter und ich sind gleich hinübergerannt, einmal weil der Caspar ein Angestellter von Friedrich war und wir uns verantwortlich fühlten. Aber mehr noch, weil wir gedacht haben, dass die Frau Caspar sozusagen an unserer statt das Opfer war. Ich hab sie nie leiden können, aber in dem Moment, als ich sie da liegen gesehen habe, da hat sie mir furchtbar leid getan. Grün und blau hatten sie sie geschlagen, sie blutete und sie schien große Schmerzen zu haben. Wir wollten gleich den Arzt holen, einige Nachbarfrauen waren in der Zwischenzeit auch gekommen. Aber sie hat sich strikt geweigert! Überhaupt hat sie sich sehr merkwürdig verhalten, hat nicht geheult und nicht geschrien – sie lag nur apathisch da und starrte an die Decke. Und dann, das werde ich nie vergessen, dann sagte sie: ›Es ist nichts, es ist gar nichts passiert. Gehen Sie nur wieder nach Hause.‹ Immer wieder hat sie wiederholt, dass alles in Ordnung sei.«
    Anna weiß davon aus Johannes’ Schilderungen. »Er meint, dass sie das Ganze nicht in ihr Bewusstsein hineinlassen wollte, trotz der Schmerzen.«
    Gretl ist derselben Ansicht. »Nach einiger Zeit hat man gemerkt, dass sie schwanger ist. Wir haben sie gebeten, angefleht haben wir sie, dass sie endlich zum Arzt oder wenigstens zur Hebamme gehen soll. Aber sie hat abgelehnt, hat auch dieses Kind, das in ihr heranwuchs, nicht wahrhaben wollen.«
    »Und dann wurde Richard geboren?«
    »Sigrid, die Tochter, hat die Hebamme geholt, als es soweit war. Frau Caspar hat sie erst nicht hereinlassen wollen, aber dann wurden die Schmerzen und die Angst immer größer. Die Geburt ging schnell und leicht. Als ich am Abend vorbeigeschaut habe, lag der Kleine da, ein hübsches Kind mit dunkler Haut und winzigen schwarzen Löckchen. Die Nachbarinnen hatten ihn in einen Wäschekorb gelegt und jede hatte etwas beigesteuert, von Sigrid waren auch noch Sachen da. Frau Caspar hat das Kind nicht sehen wollen, hat es nicht angefasst; wenn wir mit ihm näher kamen, hat sie geschrien. An Stillen war nicht zu denken, wir haben den Kleinen mit Kuhmilch aufgezogen und der Doktor musste mehrere Male vorbeikommen, weil Frau Caspar wegen der vielen Muttermilch dauernd Brustentzündungen bekam. Am dritten Tag hat eine der Nachbarinnen, es war, glaube ich, die Frau König, gefragt: ›Wie soll er denn heißen, der Kleine, Frau Caspar? Man muss ihn doch auf dem Standesamt anmelden.‹ Aber sie hat keine Antwort gegeben. Da ist Frau König einfach losgegangen und hat das Kind eintragen lassen. ›Welchen Namen haben Sie denn angegeben?‹, habe ich sie gefragt, und sie hat gesagt: ›So, wie die anderen auch alle heißen: Richard Caspar.‹ Da hätte ich am liebsten laut losgelacht, obwohl es doch wahrlich nicht lustig war!«
    Anna versteht genau, was sie meint.
    Etwas anderes interessiert sie noch brennend: Wie hat Richard Caspar, der Richard, den sie kennt, dieser freundliche, sympathische und glücklich wirkende Mensch die Tatsache verkraftet, dass seine Existenz auf einem Akt brutalster Gewalt, einer Massenvergewaltigung beruht? Kein Kind der Liebe, ein Kind des Hasses, von niemandem erwünscht. Und wie hat er es überhaupt erfahren?
    Gretl meint, das sei alles sehr bemerkenswert und auch ein großes Glück, aber ganz einfach sei es nicht gewesen. »Irgendwie ist er in den ersten zwei Jahren von selber aufgewachsen. Das halbe Dorf hat sich so gut es ging um ihn gekümmert. Wir haben uns stillschweigend abgewechselt und Sigrid, die Schwester, die damals sechzehn Jahre alt war, hat auch dabei geholfen. Frau Caspar wollte nie etwas von ihm wissen. Ich habe immer nur vor einem Angst gehabt: Was geschieht, wenn der Herr Caspar wiederkommt und das Kind sieht? Er war in einem französischen Kriegsgefangenenlager interniert. Ja, und eines Tages war es dann so weit. Im Sommer ’48 ist es gewesen, das weiß ich noch genau. Kurz zuvor gab es nämlich das neue Geld und Friedrich hat gemeint, dass es jetzt wieder aufwärts geht. Friedrich war damals nur wenige Wochen in Haft gewesen. Emma hatte einen Brief an die Militärbehörden geschrieben, dass ihr Bruder ihr geholfen hat, und auch andere haben für ihn ausgesagt. 1947 kam übrigens der ehemalige Ortsgruppenleiter Brenner aus dem Lager für politische Häftlinge in Balingen
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