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Beautiful Losers

Beautiful Losers

Titel: Beautiful Losers
Autoren: Leonard Cohen
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aus den Kinos, weil der Film in ihrem Rücken spielte. Auf der Straße, da war was los! Erregung lag in der Luft, als sie in Richtung Main Street drängten – höchste Zeit, dass etwas passierte in der Geschichte von Montréal! Um die lächelnden Lippen der Zeugen Jehovas, die gleich in einem großen Konfettibogen alle ihre Pamphlete in die Luft geschleudert hatten, sowie einiger professioneller Revolutionäre lag ein verbitterter Zug, das war nicht zu übersehen. Jeder, der in seinem innersten Herzen Terrorist war, flüsterte: Endlich. Die Polizei wurde um den Aufruhr herum zusammengezogen, Schilder wurden heruntergerissen wie Schorf (den Kinder gierig abknibbeln, weil sie glauben, er sei für ein Tauschgeschäft gut), die Polizisten standen in Reih und Glied und präsentierten sich der nächsten Macht als fester Block. Lautpoeten kamen in der Hoffnung, den Aufruhr zur Performance zu machen. Mütter traten auf die Straße, um zu sehen, ob die Krise es wert war, den Kleinen die Windeln abzugewöhnen. Ärzte, die natürlichen Feinde der Ordnung, kamen in großer Zahl angelaufen. Geschäftsleute verkleideten sich als Konsumenten und mischten sich unter das Volk. Androgyne Haschischraucher eilten herbei, weil sie hofften, noch einmal ficken zu dürfen. Alle, die noch eine unerfüllte Hoffnung hatten, waren jetzt da: die Geschiedenen, die Bekehrten, die Übergebildeten, alle kamen, um ihre zweite Chance zu ergreifen, Karatemeister, Philatelisten, Humanisten – gebt uns unsere Chance, die zweite Chance! Das war die Revolution! Es war die erste Frühlingsnacht, die Nacht der kleinen Religionen. Noch einen Monat, dann würden die Glühwürmchen da sein, der Flieder. Ein Kult von tantrischen Liebesperfektionisten trat in voller Stärke auf, sie kehrten sich auf der Suche nach Mitgefühl nach außen und begannen, staatlich geförderte Strukturen der Selbstliebe zu zerstören, indem sie vorführten, wie akzeptabler Sex in der Öffentlichkeit aussehen könnte. Eine kleine Nazi-Partei trat auf, die jugendlichen Mitglieder liefen zum lebendigen Mob über und kamen sich vor wie Staatsmänner. Die Armee schwebte über das Radio ein, um festzustellen, ob die Situation geschichtsträchtige Intensität erreicht hatte, was zur Folge hätte, dass die Schildkröte des Bürgerkriegs die Revolution einholen würde. Schauspieler und andere professionelle Darsteller, darunter auch Zauberkünstler, stürzten sich in die Menge, weil sie ihre letzte zweite Chance witterten.
    – Guck dir den an!
    – Was ist hier los?
    Zwischen der Polarjagd und dem Fenster der Main Shooting and Game Alley staute sich ein Keuchen aus offenen Mündern an, ein staunender, zuckend angehaltener Atem, der sich über den Köpfen der Menge ausbreitete wie ein Loch in der Atmosphäre. Der alte Mann hatte eine bemerkenswerte Vorstellung begonnen (die ich hier nicht beschreiben werde). Ich sage nur so viel: Er löste sich langsam auf. So wie ein Krater durch eine Unzahl winziger Erdrutsche immer weiter wird, so löste er sich von innen heraus auf. Doch seine Erscheinung war noch nicht ganz verschwunden, als er schon begann, sich neu zu formieren. »War noch nicht ganz verschwunden«, ist eigentlich nicht der richtige Ausdruck. Seine Erscheinung hatte die Form einer Sanduhr, die an der engsten Stelle besonders stark war. Gerade, als er fast verschwunden war, entlud sich das Keuchen, denn die Zukunft strömt durch diesen einen Punkt, sie fließt in beide Richtungen. Ihre schmale Taille – sie ist das Schönste an der Sanduhr! Hier kristallisiert sich der Augenblick der Klarheit! Hier soll sich für immer verwandeln, was wir nicht wissen können! Einen kostbaren Augenblick lang fließt der Sand, aller Sand der Welt, durch einen einzigen Punkt zwischen zwei Glasballons! Nein, das ist keine zweite Chance! Solange, wie es braucht, einen Seufzer auszustoßen, gewährte er den Zuschauern eine Vision von der Gleichzeitigkeit aller Chancen! Einigen Puristen (also Menschen, die das Allgemeinwissen zerstören, indem sie es aussprechen) galt dieser Moment der maximalen Auflösung als Gipfel des Abends. Schnell jetzt und gierig, als hätte ihn die allgemeine Erregung über das Unbekannte selbst gepackt, formierte er sich in – in einen Ray-Charles-Film hinein! Grad um Grad, als befände er sich in einer Dokumentation über die Filmindustrie selbst, erweiterte er den Bildrahmen. In seiner Sonnenbrille spiegelte sich der aufgehende Mond, Ray Charles legte seine Tastatur über den
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