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Bauernopfer

Bauernopfer

Titel: Bauernopfer
Autoren: Thomas Peter
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in die Küche. Er belegte sich ein Wurstbrot und schenkte sich ein Weißbier ein. Das Wurstbrot diente lediglich der Bekämpfung des Hungers. Das Weißbier aber war ein Ritual. Auch wenn nur noch wenig Zeit blieb, bis er wieder aufstehen musste, wollte er darauf nicht verzichten. Wenn Charly den ersten Schluck dieses Feierabend-Weißbiers genoss, dann wusste er, dass er jetzt zu Hause war und dass vorerst Getötete, Selbstmörder, Mörder und Schläger, Spuren und Indizien, Zeugen und Opfer draußen bleiben mussten. Er wollte nicht mehr an die ganze Kriminalität denken und schon gar nicht darüber sprechen. Er freute sich auf diesen ersten Schluck und ging mit seinem Weißbier und seinem Wurstbrot zurück ins Wohnzimmer. Dabei registrierte er wieder das Ziehen in der rechten Schulter. Das hatte er während der ganzen Tatortarbeit vermutlich verdrängt. Jetzt schmerzte es dafür umso mehr.
    »Was war denn los?«, fragte Petra, die sich zwischenzeitlich zum Wachsein gezwungen hatte und ihn aus verschlafenen Augen anblinzelte.
    »Selbstmord – ein Bauer.«
    »Und warum?«
    »Keine Ahnung.«
    An die Einsilbigkeit ihres Mannes nach Dienstende gewöhnt und daher mit dieser Antwort vorerst zufrieden, drehte Petra sich wieder in die Decke, und Charly nahm den zweiten Schluck. Eine halbe Stunde später gingen sie zu Bett.

Montag, 13. Oktober
    Kurz nach 06.00 Uhr saß Charly wieder in seinem Büro. Eine kreischende Girlgroup im Radiowecker hatte ihn brutal ins Diesseits zurückgeholt, obwohl er fest überzeugt war, gerade erst eingeschlafen zu sein. Die Schmerzen in seiner Schulter hatten nicht nachgelassen, sondern waren schlimmer geworden. Schwerfällig wie ein Seeelefant musste er sich aus dem Bett rollen und entgegen einer inneren Stimme, die ihm riet, sich krank zu melden und zu Hause zu bleiben, hatte er sich unter vermeintlich schmerzmildernden Verrenkungen in Jeans, T-Shirt und Hemd gequält und sich ins Auto gesetzt, um zur Arbeit zu fahren. Schließlich war einiges zu regeln heute Morgen. Krank sein konnte er dann immer noch, wenn er seine Pflichten erfüllt hatte und die Arbeit verteilt war.
    Das Dienstgebäude, die »Friedenskaserne«, lag einen Steinwurf von der Fußgängerzone entfernt mitten in der Stadt. Um diese Zeit waren nur wenige Fahrzeuge auf dem Parkplatz nördlich des roten Ziegelbaus abgestellt. Später würde hier wieder das tägliche Parkchaos herrschen und Ordnungshüter sowie Verkehrsüberwacher würden ihre Autos im Rasen, auf Sperrflächen und in Einfahrten abstellen, um keinen Meter zu viel laufen zu müssen. Er betrat das Gebäude und grüßte den müde aussehenden Beamten in der Wache, die wegen des erkerartigen Vorbaus aus schusssicherem Glas auch abfällig »Aquarium« genannt wurde. Mehrere Dienststellen – Inspektion, Kripo, Einsatzzug und Fahndung – waren hier untergebracht. Daher glich das Haus tagsüber einem überdimensionalen Bienenstock, in dem viele verschiedene Völker gemeinsam die Öffnungen für An- und Abflüge nutzten.
    Charly mochte es, morgens einer der Ersten auf der Dienststelle zu sein, bevor die Hektiker erschienen und die Tagesroutine so richtig in Gang kam. Er konnte sich dann in Ruhe informieren, Lagemeldungen und Neuigkeiten lesen und sich so auf den neuesten Stand bringen. Die morgendliche Stille gab ihm Gelegenheit, sich auf anstehende Aufgaben zu konzentrieren und seine Gedanken zu ordnen.
    Eine gute halbe Stunde später war es mit der Stille ohnehin vorbei. Nach und nach trafen die Kolleginnen und Kollegen ein. Je nachdem, wie sie ihr Wochenende verbracht hatten, schlurften sie entweder mit eingezogenem Kopf über den Gang und murmelten ein »Moing«, schritten leichtfüßig einher und zwitscherten ein »Guten Morgen, Charly«, stapften an Charlys Büro vorbei und knurrten oder hasteten zu ihren Schreibtischen, ohne zu grüßen.
    Charly schloss ungern seine Bürotür, denn eine offene Tür war die Schnittstelle zum aktuellen Geschehen. Wie eine pulsierende Schlagader zog sich der Gang gradlinig durch die Dienststelle und die Büros lagen links und rechts davon wie zu durchblutende Organe. Die meisten davon waren wichtig für das reibungslose Funktionieren des Organismus, andere wieder waren Wurmfortsätze, die man nur wahrnahm, wenn sie sich entzündeten und Schwierigkeiten machten. Derartige Gleichnisse gingen Charly in der Stille des frühen Morgens durch den Kopf und dann amüsierte er sich dabei, die Kollegen in rote und weiße Blutkörperchen, in
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