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Baudolino

Baudolino

Titel: Baudolino
Autoren: Umberto Eco
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aus wie ein dunkler Schatten, umgeben vom zwiefachen Schein des anbrechenden Tages und der Feuersbrunst. Niketas hörte ihm teils zu, teils vergegenwärtigte er sich noch einmal die Geschehnisse der vergangenen Tage.
    An jenem Morgen, es war Mittwoch, der 14. April Anno
    Domini 1204 - oder im Jahre 6712 seit Anbeginn der Welt, wie man in Byzanz zu zählen pflegte -, hatten sich die Barbaren seit nunmehr zwei Tagen endgültig in den Besitz von
    Konstantinopel gebracht. Das byzantinische Heer, das auf den Paraden so prachtvoll glänzte mit seinen schimmernden
    Rüstungen, Helmen und Schilden, und die kaiserliche Wache der englischen und dänischen Söldner mit ihren schrecklichen Doppeläxten, die noch am Freitag den Feinden tapfer
    entgegengetreten und nicht gewichen waren, hatten sich am Montag, als die Feinde schließlich die Mauern überwanden, gleichsam in Luft aufgelöst. Es war ein so unerwarteter Sieg gewesen, daß die Sieger gegen Abend von selbst innehielten, da sie eine nächtliche Rückeroberung fürchteten - und um sich gegen diese zu schützen, hatten sie den neuen Brand gelegt.
    Doch am nächsten Morgen mußte die ganze Stadt entdecken,
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    daß der Usurpator Alexios Dukas Murtzuphlos ins Hinterland geflohen war. Die Bürger, nun verwaist und besiegt, verfluchten jenen Thronräuber, dem sie noch am Abend zuvor gehuldigt hatten, so wie sie ihn hatten hochleben lassen, als er seinen Vorgänger erwürgt hatte, und da sie nicht wußten, was sie tun sollten (Feiglinge, Feiglinge, Feiglinge, welch eine Schande, jammerte Niketas über diese Kapitulation), versammelten sie sich zu einem großen Zug, mit dem Patriarchen an der Spitze und Priestern aller Arten in ihren rituellen Gewändern und Mönchen, die um Gnade flehten, bereit, sich den neuen
    Machthabern zu verkaufen, wie sie sich seit jeher den alten verkauft hatten, die Kreuze und Bildnisse unseres Herrn Jesus Christus zumindest so hoch erhoben wie ihr Geschrei und Gejammer, und so zogen sie den Eroberern entgegen in der Hoffnung, sie zu besänftigen.
    Welch ein Wahn, Barmherzigkeit zu erhoffen von diesen
    Barbaren, die nicht darauf warten mußten, daß die Feinde sich ihnen ergaben, um endlich zu tun, wovon sie seit Monaten träumten: die größte, volkreichste, edelste und opulenteste Stadt der Welt zu plündern und sich die Beute zu teilen. Der riesige Zug der um Gnade Flehenden fand sich gegenüber
    Falschgläubigen mit verzerrter Miene, deren Schwerter noch rot von Blut waren und deren Pferde unruhig stampften. Als sei der Zug nicht vorhanden und niemals vorhanden gewesen, begannen sie mit der Plünderung.
    O Herr Jesus Christus, welche Drangsal, welche Nöte und Qualen hatten die Unseren da zu erleiden! Warum hatten uns nicht das Toben des Meeres, eine Verdunklung oder
    vollständige Verfinsterung der Sonne, ein blutroter Hof des Mondes oder die Bewegungen der Sterne dieses äußerste
    Unglück angekündigt? - So klagte Niketas, als er am Dienstag abend in dem umherirrte, was die Hauptstadt der letzten Römer gewesen war, auf der einen Seite bemüht, den Horden der
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    Ungläubigen aus dem Weg zu gehen, auf der anderen von
    immer neuen Bränden am Weitergehen gehindert, voller
    Verzweiflung einen Weg nach Hause suchend und voller Angst, daß inzwischen vielleicht schon einige dieser Hunde seine Familie bedrohten.
    Schließlich, gegen Abend, als er nicht wagte, durch die Parks und über den offenen Platz zwischen der Hagia Sophia und dem Hippodrom zu gehen, war er zu der riesigen Kirche gelaufen, da er ihre hohen Portale offenstehen sah und nicht annahm, daß die Zerstörungswut der Barbaren so weit gehen würde, auch diesen heiligen Ort zu schänden.
    Doch als er eintrat, erbleichte er vor Entsetzen. Der weite Raum war übersät mit Leichen, zwischen denen sich
    sturzbetrunkene feindliche Reiter bewegten. Nicht weit vor ihm war das Lumpenpack gerade dabei, mit Keulenschlägen die silberne und mit Gold beschlagene Gittertür des Presbyteriums aufzubrechen. Die prächtige Kanzel hatten sie mit Seilen umwunden, um sie herunterzureißen und durch ein
    Maultiergespann fortschleppen zu lassen. Eine grölende Horde trieb die Tiere mit Schlägen und Schreien an, aber die Hufe glitten auf dem blanken Steinboden aus, die Bewaffneten setzten den armen Tieren mit Stichen und Klingenhieben zu, die also Gequälten brachen vor Angst in lautes Gewieher aus, einige stürzten zu Boden und brachen sich ein Bein, so daß der ganze Raum um die Kanzel ein einziges
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