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Baudolino - Eco, U: Baudolino

Titel: Baudolino - Eco, U: Baudolino
Autoren: Umberto Eco
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und hatte keine eigene Geschichte und wollte nur die der anderen erfahren. Jetzt hätte ich vielleicht eine, aber ich habe nicht nur alles verloren, was ich über meine Vergangenheit aufgeschrieben hatte, sondern ich bringe auch alles durcheinander, wenn ich mich zu erinnern versuche. Nicht, dass mir die einzelnen Fakten entfallen wären, aber ich bin nicht imstande, ihnen einen Sinn zu geben. Und nach dem, was mir heute widerfahren ist, muss ich unbedingt mit jemandem darüber sprechen, sonst werde ich verrückt.«
    »Was ist dir denn widerfahren?« fragte Niketas, während er mühsam durchs Wasser stapfte – er war zwar jünger als Baudolino, aber sein Leben als Gelehrter und Höfling hatte ihn korpulent und träge gemacht.
    »Ich habe einen Menschen getötet. Es war der, der vor fast fünfzehn Jahren meinen Adoptivvater ermordet hat, den besten aller Könige, den Kaiser Friedrich.«
    »Aber Friedrich ist doch in Kilikien ertrunken!«
    »Das glauben alle. Aber er ist ermordet worden. Kyrios Niketas, du hast mich heute Abend in der Hagia Sophia wütend mit dem Schwert dreinschlagen sehen, aber glaub mir, ich hatte in meinem ganzen Leben noch niemals Blut vergossen. Ich bin ein friedlicher Mensch. Diesmal jedoch musste ich töten, ich war der einzige, der hier für Gerechtigkeit sorgen konnte.«
    »Du wirst mir alles erzählen. Aber sag mir zuerst, wie eskam, dass du genau im rechten Augenblick, wie von der Vorsehung geschickt, in der Hagia Sophia erschienen bist, um mir das Leben zu retten.«
    »Während die Pilger anfingen, die Stadt zu plündern, war ich gerade dabei, einen finsteren Ort zu betreten. Als ich vor ungefähr einer Stunde wieder herauskam, war es schon dunkel, und ich befand mich in der Nähe des Hippodroms. Ich wurde fast überrannt von einer Schar Griechen, die schreiend vor etwas davonliefen. Ich konnte mich gerade noch in den Eingang eines halbverbrannten Hauses retten, und als sie vorbei waren, sah ich die Pilger, die sie verfolgten. Da begriff ich, was im Gange war, und siedend heiß schoss mir ein Gedanke durch den Kopf: Ich war zwar ein Lateiner und kein Grieche, aber bevor diese bestialisierten Lateiner das merkten, würde zwischen mir und einem toten Griechen kein großer Unterschied mehr sein. Ach wo, das ist doch nicht möglich, sagte ich mir, die können doch nicht die größte Stadt der Christenheit zerstören wollen, gerade jetzt, wo sie sie erobert haben ... Dann fiel mir ein, als ihre Vorfahren zur Zeit Gottfrieds von Bouillon in Jerusalem eindrangen, da haben sie ebenfalls alle umgebracht, Frauen, Kinder und Haustiere, obwohl die Stadt anschließend die ihre wurde, und man kann von Glück sagen, dass sie nicht auch das Heilige Grab zerstört haben. Es stimmt zwar, dass es damals Christen waren, die in eine Stadt der Ungläubigen einfielen, aber gerade jetzt auf meiner Reise habe ich erlebt, wie heftig Christen wegen eines kleinen Wörtchens übereinander herfallen können, und bekanntlich streiten sich ja unsere Priester seit Jahren mit euren Priestern über die Frage des Filioque . Und schließlich, da hilft nun mal nichts, wenn Krieger in eine Stadt eindringen, hält keine Religion sie zurück.«
    »Was hast du dann also gemacht?«
    »Ich habe den Hauseingang verlassen und bin dicht an den Mauern entlang bis zum Hippodrom gegangen. Und dort habe ich die Schönheit verblühen und sterben sehen. Du musst wissen, seit ich mich in der Stadt befinde, bin ich immer wieder dorthin gegangen, um jene Mädchenstatue zu betrachten, ich meine die mit den wohlgeformtenFüßen, mit Armen wie Schnee und roten Lippen und mit jenem Lächeln und jenen Brüsten und jenen Kleidern und jenen Haaren, die im Winde zu tanzen schienen, eine Statue, bei der man, wenn man sie von weitem sah, gar nicht glauben mochte, dass sie aus Bronze war, so lebendig wirkte sie, wie aus Fleisch und Bein ...«
    »Du meinst die Statue der Helena von Troja. Was ist denn mit ihr geschehen?«
    »Binnen weniger Augenblicke sah ich die Säule, auf der sie stand, umstürzen wie ein gefällter Baum, es war eine einzige Staubwolke. In Stücke gebrochen lag der Körper am Boden, wenige Schritte vor mir der Kopf, und da erst bemerkte ich, wie groß die Statue gewesen war. Den Kopf hätte man nicht mit zwei Armen umfassen können, und er starrte mich von der Seite an wie der einer Liegenden, mit waagerechter Nase und senkrechten Lippen, die mir, entschuldige, wie jene vorkamen, welche die Frauen zwischen den Beinen haben, und mit
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