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Barcelona 03 - Der Gefangene des Himmels

Barcelona 03 - Der Gefangene des Himmels

Titel: Barcelona 03 - Der Gefangene des Himmels
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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Isaac die Öllampe vom Boden, und Fermín konnte die mechanische Arabeske dieses Schlosses studieren, das sich in sich selbst zusammenklappte wie die Eingeweide der größten Uhr der Welt.
    »Da hätte es ein Dieb nicht leicht«, warf er hin.
    Ich bedachte ihn mit einem mahnenden Blick, und rasch hielt er sich den Finger auf den Mund.
    »Ausleihen oder zurückbringen?«, fragte Isaac.
    »Eigentlich wollte ich Fermín schon lange herbringen, damit er diesen Ort persönlich kennenlernt, von dem ich ihm so viel erzählt habe. Er ist mein bester Freund und heiratet heute Mittag«, erklärte ich.
    »Um Gottes willen«, sagte Isaac. »Der Ärmste. Sind Sie sicher, dass ich Ihnen hier nicht Hochzeitsasyl gewähren soll?«
    »Fermín gehört zu denen, die aus Überzeugung heiraten, Isaac.«
    Der Aufseher musterte ihn von oben bis unten. Fermín beantwortete diese Dreistigkeit mit einem entschuldigenden Lächeln.
    »Wie mutig.«
    Er führte uns durch den breiten Gang zur Öffnung der Galerie, die in den großen Saal mündete. Ich ließ Fermín ein paar Schritte vorausgehen, damit seine Augen diese mit Worten nicht zu beschreibende Vision selbst entdeckten.

    Seine winzige Silhouette tauchte in das große Lichtbündel, das von der Glaskuppel oben herabfiel. Wie ein gischtender Wasserfall stürzte die Helligkeit auf die Winkel des großen Labyrinths aus Gängen, Tunnels, Treppen, Bögen und Gewölben, die aus dem Boden zu sprießen schienen gleich einem riesigen Baumstamm aus Büchern, der sich in einer unmöglichen Geometrie zum Himmel hin öffnete. Fermín blieb am Anfang eines Laufstegs stehen, der wie eine Brücke in die Basis der Struktur hineinführte, und betrachtete offenen Mundes das Schauspiel. Leise trat ich zu ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter.
    »Willkommen im Friedhof der Vergessenen Bücher, Fermín.«

7
    Wenn jemand den Friedhof der Vergessenen Bücher entdeckte – so meine persönliche Erfahrung –, war seine Reaktion Verzauberung und Staunen. Die Schönheit und das Geheimnisvolle des Orts weckten im Besucher Stille, Kontemplation und Traumversunkenheit. Es war klar, dass es bei Fermín anders sein musste. Die erste halbe Stunde war er hypnotisiert, stürmte wie ein Besessener durch die Innereien des großen Puzzles, aus dem das Labyrinth bestand. Immer wieder klopfte er auf Strebepfeiler und Säulen, als zweifle er an ihrer Festigkeit. Er hielt sich bei Winkeln und Perspektiven auf, formte die Hände zum Fernglas und versuchte die Logik des Aufbaus zu ergründen. Beim Durchwandern der Bibliotheksspirale hielt er mit seiner beachtlichen Nase einen Zentimeter Abstand zu den zahllosen, in unendlichen Wegen aufgereihten Buchrücken, suchte Titel und katalogisierte alles, woran er vorbeikam. Beunruhigt bis besorgt folgte ich ihm mit wenigen Schritten Abstand.
    Inzwischen war ich mir sicher, dass uns Isaac hochkant hinauswürfe, als ich auf einer der zwischen Büchergewölben hängenden Brücken auf ihn stieß. Zu meiner Überraschung war auf seinem Gesicht nicht nur nicht das geringste Anzeichen von Irritation zu lesen, sondern Fermíns Fortschritte bei der ersten Erforschung des Friedhofs der vergessenen Bücher brachten ihn zum Lächeln.
    »Ihr Freund ist ein rechter Kauz«, sagte er.
    »Das kann man wohl sagen.«
    »Keine Sorge, er soll sich nach Lust und Laune bewegen, er kommt dann schon wieder von der Wolke herunter.«
    »Und wenn er sich verirrt?«
    »Der ist clever, wie ich sehe. Er wird sich zu helfen wissen.«
    Mir war das nicht ganz geheuer, aber ich mochte Isaac nicht widersprechen. Ich begleitete ihn zu seinem Büro und schlug die Tasse Kaffee nicht aus, die er mir anbot.
    »Haben Sie Ihrem Freund die Regeln schon beigebracht?«
    »Fermín und Regeln sind zwei Begriffe, die nicht in denselben Satz passen. Aber ich habe ihm das Grundsätzliche resümiert, und er hat mit einem überzeugten ›Aber natürlich, wofür halten Sie mich?‹ geantwortet.«
    Während mir Isaac Kaffee nachschenkte, betrachtete ich verstohlen ein Foto seiner Tochter Nuria über dem Schreibtisch.
    »Bald sind es zwei Jahre her, seit sie uns verlassen hat«, sagte er mit einer Trauer, die in die Luft schnitt.
    Bedrückt schaute ich zu Boden. Es könnten auch hundert Jahre vergehen, und Nuria Monforts Tod würde in meiner Erinnerung ebenso überdauern wie die Gewissheit, dass sie vielleicht noch am Leben wäre, wenn sie mich nie kennengelernt hätte. Isaac liebkoste das Bild mit dem Blick.
    »Ich werde alt, Sempere.
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