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Barcelona 01 - Der Schatten des Windes

Barcelona 01 - Der Schatten des Windes

Titel: Barcelona 01 - Der Schatten des Windes
Autoren: Carlos Ruiz Zafon
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uns? Unsere Anwesenheit ist ausschließlich ökumenischer Natur. Der Knabe da, der morgen im Angesicht der heiligen Mutter Kirche zum Manne wird, und ich sind gekommen, um nach der Insassin Jacinta Coronado zu fragen.«
Schwester Emilia zog eine Braue in die Höhe.
»Gehören Sie zur Familie?«
»Geistig.«
»Jacinta ist vor vierzehn Tagen gestorben. Am Abend zuvor hat ein Herr sie besucht. Ein Verwandter von Ihnen?«
»Sie meinen Pater Fernando?«
»Es war kein Priester. Er sagte, er heiße Julián. An den Nachnamen erinnere ich mich nicht.«
Fermín schaute mich stumm an.
»Julián ist ein Freund von mir«, sagte ich.
Schwester Emilia nickte.
»Er war mehrere Stunden bei ihr. Ich hatte sie seit Jahren nicht mehr lachen hören. Nachdem er gegangen war, hat sie zu mir gesagt, sie hätten von früheren Zeiten gesprochen, als sie noch jung waren. Sie sagte, dieser Herr habe Nachrichten von ihrer Tochter Penélope gebracht. Ich hatte nicht gewußt, daß Jacinta eine Tochter hatte. Ich erinnere mich, weil mich Jacinta am nächsten Morgen angelächelt hat, und als ich sie fragte, warum sie sich so freue, sagte sie, sie gehe nach Hause, zu Penélope. Wenig später ist sie im Schlaf gestorben.«
Kurz danach beschloß die Rociíto ihr Liebesritual und ließ den Opa erschöpft zurück. Als wir gingen, zahlte ihr Fermín das Doppelte, aber angesichts all dieser von Gott und dem Teufel hoffnungslos Vergessenen vergoß sie Tränen und wollte ihr Honorar unbedingt Schwester Emilia stiften, damit diese allen einen Imbiß mit Ölkringeln und Schokolade auftische – das sei ihr Allheilmittel gegen das Elend des Lebens, sagte sie.
»Man ist eben sentimental. Schauen Sie, Señor Fermín, dieses arme Kerlchen … Wollte nichts weiter, als daß ich ihn festhalte und streichle. Das bricht einem das Herz.«
Wir steckten sie mit einem guten Trinkgeld in ein Taxi und peilten die menschenleere Calle Princesa an.
»Wir werden schlafen gehen müssen, wegen morgen«, sagte Fermín.
»Ich glaube nicht, daß ich kann.«
Wir marschierten Richtung Barceloneta und gelangten, ohne es recht zu merken, auf dem Wellenbrecher immer weiter hinaus, bis zu unseren Füßen die ganze still leuchtende Stadt wie eine riesige Luftspiegelung aus dem Hafenwasser aufstieg. Wir setzten uns auf die Mole und gaben uns dieser Erscheinung hin. Zwanzig Meter von uns entfernt nahm eine reglose Karawane von Autos mit dunstblinden und zeitungsverhängten Fenstern ihren Anfang.
»Diese Stadt ist eine Hexe, wissen Sie, Daniel. Sie setzt sich einem auf der Haut fest und nimmt einem die Seele, ohne daß man es überhaupt merkt.«
»Sie reden wie die Rociíto, Fermín.«
»Lachen Sie nicht, Leute wie sie machen aus dieser beschissenen Welt einen besuchenswerten Ort.«
»Die Nutten?«
»Nein. Nutten sind wir früher oder später alle. Ich meine die Menschen mit gutem Herzen. Und schauen Sie mich nicht so an. Hochzeiten machen mich fertig.«
Umfangen von dieser seltenen Ruhe, blieben wir dort sitzen und verfolgten die Reflexe auf dem Wasser. Nach einiger Zeit überzog die Dämmerung den Himmel mit Bernstein, und Barcelona wurde hell. In der Ferne hörte man die Glocken der Basilika Santa María del Mar, die jenseits des Hafens aus dem Dunst ragte.
»Glauben Sie, Carax ist immer noch da, irgendwo in der Stadt?«
»Fragen Sie mich etwas anderes.«
»Haben Sie die Ringe?«
Fermín lächelte.
»Los, gehen wir. Man erwartet uns, Daniel. Das Leben erwartet uns.«
    Sie war elfenbeinfarben gekleidet und trug die Welt in den Augen. Ich erinnere mich kaum an die Worte des Geistlichen noch an die hoffnungsfrohen Gesichter der Gäste, die an diesem Märzvormittag die Kirche füllten. Es bleibt mir allein die Berührung ihrer Lippen und, als ich die Augen öffnete, der geheime Schwur, den ich auf der Haut mitnahm und an den ich mich alle Tage meines Lebens erinnern werde.

NACHSPIEL 1966
    Julián Carax beendet Der Schatten des Windes mit einem kurzen Überblick, in dem er die Schicksale seiner Figuren Jahre später skizziert. Seit jener weit zurückliegenden Nacht des Jahres 1945 habe ich viele Bücher gelesen, aber Carax’ letzter ist weiterhin mein Lieblingsroman. Heute, mit dreißig Jahren, glaube ich kaum, daß ich meine Meinung noch ändere.
    Während ich auf dem Ladentisch der Buchhandlung diese Zeilen schreibe, beobachtet mich lächelnd mein Sohn Julián, der morgen zehn wird, und staunt ungläubig über diesen Stapel Blätter, der höher und höher wird. Wahrscheinlich ist er
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