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Barcelona 01 - Der Schatten des Windes

Barcelona 01 - Der Schatten des Windes

Titel: Barcelona 01 - Der Schatten des Windes
Autoren: Carlos Ruiz Zafon
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Leere geschleudert, um mich dann zu Boden zu werfen. Ich spürte den Fall nicht, hatte aber das Gefühl, die Wände strebten zusammen und die Decke stürze herab, um mich zu erdrücken.
Eine Hand hielt meinen Nacken, und ich sah, wie sich Julián Carax’ Gesicht über mich beugte. Ich bemerkte das Entsetzen in seinem Blick. Ich sah, wie er mir die Hand auf die Brust legte, und fragte mich, was das für eine warme Flüssigkeit sein mochte, die ihm zwischen den Fingern hervorquoll. Und jetzt spürte ich das schreckliche Feuer, eine Glut, die mir das Innere aufzehrte. Ich wollte schreien, aber das lauwarme Blut erstickte jeden Laut. Neben mir erkannte ich Palacios’ von Gewissensbissen zerquältes Gesicht. Ich schaute auf, und da sah ich sie. Mit entsetztem Ausdruck, die zitternden Hände vor dem Mund, kam Bea langsam von der Bibliothekstür her näher. Sie schüttelte ungläubig den Kopf. Ich wollte sie warnen, doch eine beißende Kälte überzog mir Arme und Beine und bahnte sich einen Weg durch meinen Körper.
Fumero lauerte hinter der Tür verborgen. Bea bemerkte ihn nicht. Als Carax aufschnellte und Bea sich alarmiert umdrehte, berührte der Revolver des Inspektors bereits ihre Stirn. Palacios stürzte sich auf ihn, um ihn zurückzuhalten. Er kam zu spät. Schon war Carax über ihm. Ich hörte wie aus weiter Ferne seinen Schrei, Beas Namen. Der Raum blitzte im Widerschein des Schusses auf. Die Kugel durchdrang Carax’ rechte Hand. Einen Wimpernschlag später fiel der Mann ohne Gesicht über Fumero her. Ich neigte mich zur Seite, um zu sehen, wie Bea unverletzt auf mich zustürzte. Ich suchte Carax mit den Augen, fand ihn aber nicht – eine andere Figur hatte seinen Platz eingenommen. Es war Laín Coubert, wie ich ihn vor vielen Jahren bei der Lektüre eines Buches zu fürchten gelernt hatte. Diesmal gruben sich Couberts Klauen in Fumeros Augen und schleiften ihn wie an Haken mit. Ich glaubte zu sehen, wie die Beine des Inspektors durch die Bibliothekstür schleiften, wie sein Körper zappelte, während Coubert ihn zur Tür zerrte, wie seine Knie auf der Marmortreppe aufschlugen und der Schnee ihm ins Gesicht stöberte, wie ihn der Mann ohne Gesicht am Hals packte, in die Luft hob und dem gefrorenen Brunnen entgegenschleuderte, wie die Dolchhand des Engels seine Brust aufspießte. Ich glaubte zu sehen, wie er seine verdammte Seele in Dampf und schwarzem Atem aushauchte, während die Augen wie Reif zersplitterten.
Jetzt sank ich in mich zusammen. Die Dunkelheit färbte sich mit weißem Licht, und Beas Gesicht zog sich in einen Tunnel aus Nebel zurück. Ich schloß die Augen und spürte ihre Hände auf meinem Gesicht und hörte, wie ihre leise Stimme Gott bat, mich nicht mitzunehmen, wie sie flüsterte, sie liebe mich und werde mich nicht gehen lassen, sie werde mich nicht gehen lassen. Ich erinnere mich nur noch, daß ich mich in dieser Wolke von Licht und Kälte auflöste, daß mich ein seltsamer Frieden einlullte und den Schmerz und das eisige Feuer aus meinem Innern nahm. Ich sah mich selbst an Beas Hand durch die Straßen dieses verzauberten Barcelonas spazieren, beide schon fast Greise. Ich sah, wie mir mein Vater und Nuria Monfort weiße Rosen aufs Grab legten. Ich sah Fermín in den Armen der Bernarda weinen und sah meinen alten, für immer verstummten Freund Tomás. Ich sah sie, wie man aus einem zu schnell abfahrenden Zug Fremde sieht. Als hätte sich ein verlegter Zeitungsausschnitt in die Seiten eines Buches verirrt, erinnerte ich mich an das Gesicht meiner Mutter, das ich vor vielen Jahren verloren hatte. Ihr Licht war alles, was mich auf meinem Absinken begleitete.

POST MORTEM 27. NOVEMBER 1955
    Das Zimmer war weiß und mit Dunstschleiern und leuchtender Sonne ausgekleidet. Von meinem Fenster aus sah man ein unendliches blaues Meer. Später würde man mich davon überzeugen wollen, daß von der CorachánKlinik aus das Meer nicht zu sehen ist, daß ihre Zimmer weder weiß noch ätherisch sind und daß das Meer in jenem November überhaupt kalt und bleiern abweisend war, daß es an sämtlichen Tagen dieser Woche weiterschneite, bis ganz Barcelona unter einem Meter Schnee begraben war und selbst Fermín, der ewige Optimist, dachte, ich würde noch einmal sterben.
    Ich war schon vorher gestorben, im Krankenwagen, in Beas Armen und denen des Polizisten Palacios, der sich mit meinem Blut die Uniform ruinierte. Laut den Ärzten, die über mich sprachen, als könnte ich sie nicht hören, hatte das Projektil
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