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Barbarendämmerung: Roman (German Edition)

Barbarendämmerung: Roman (German Edition)

Titel: Barbarendämmerung: Roman (German Edition)
Autoren: Tobias O. Meißner
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Schinken vors Gesicht gehalten und einfach gefressen, aber die Linke rührte sich nicht mehr. Er musste mit rechts auskommen, was bewältigbar war, weil die Rechte ohnehin seine bessere Schwerthand war.
    Der Wald machte sich um ihn herum breit. Viele Ameisen. Gezwitscher in den Bäumen. Nadeln rieselten, wenn ein Kletterhörnchen sprang. In seiner linken Seite baute ein Specht sein Nest. Der Schmerz ragte inzwischen bis hinab in die Kniekehle. Abermals versuchte er ihn zu packen und zu erwürgen, aber der Schmerz entkam ihm, obwohl er seinen Standort gar nicht zu verändern schien.
    Er bleckte die Zähne.
    Hier, im tiefen Wald, überkam ihn die Lust, ein Reh totzubeißen.
    Aber die Tiere flohen ihn nun. Sein Blut wehte vor ihm her wie die Fahne eines Trunkenen.
    Er wollte sich gegen einen Baum lehnen und traf nur den Raum zwischen zwei Bäumen. Schwer fiel er auf Wurzelwerk und Moos. Das Wurzelwerk ähnelte der Schrift, mit der man ihm schon oft vor der Nase herumgewedelt hatte. Die Stadtmenschen konnten in dieser Schrift Worte und Sprache finden wie in einem Versteck.
    Es wurde dunkel, und es wurde hell, und es war noch immer derselbe Tag.
    Es wurde dunkel, und es wurde hell, und es war noch immer derselbe Tag. Dieser Tag war dunkler im Wald als außerhalb, aber es war dennoch derselbe.
    Er krallte sich ins Moos und stemmte sich daran hoch. Es war ihm, als würde er die Welt von sich wegschieben. Verächtlich.
    Als er stand, schlug er sein Wasser ab, mitten auf dem Weg. Er bekam schon wieder Durst. Torkelte weiter. Es war nicht einfach, den Weg zu treffen. Seine Schritte wollten überallhin, sogar nach oben, zu den Schwarzdrosseln, manchmal.
    Als er das nächste Mal stürzte, mochte es viele Stunden später sein, die Schatten wurden schon länger, und sein Sturz war ein langsames In-sich-Zusammenfalten. Es war, als würden seine Knochen sich verflüssigen und alles innerhalb seiner Haut nach unten rutschen. Er kämpfte beinahe eine Viertelstunde darum, sich aufrecht halten zu können, aber er verlor diesen Kampf. Die Handfläche, die er vor Augen hielt, war weiß wie städtisches Pergament. Er hatte Blut verloren und verloren und verloren. Der Weg hinter ihm war ein See, der vor ihm eine Wüste.
    Seine Zähne klapperten. Er krümmte sich einwärts und erwartete die Nacht, aber die Sonne steckte wie festgenagelt im Himmel und leuchtete ihn aus, in zunehmend tiefer werdendem Rot.
    Er konnte Beine sehen und zählen. Zwölf Beine von Wildschweinen. Sechs einer Ameise. Sechs einer Waldwespe, die zwischen den Haaren seines Armes balancierte. Vier eines Fuchses. Vier eines Dachses. Zwei einer alten Frau, die mit ihm redete. Die Frau verschwand und kehrte zurück. Dann schlug sie ihn, mit einem Stock oder einem Besen. Schimpfte mit ihm. Schlug erneut. Er verstand kein Wort. Er stieß ein tiefes Grollen aus, das sich zu einem Heulen steigerte.
    Die Frau war fort.
    Die Dunkelheit flutete um ihn herum, rauschend wie ein Meer. Mit der Dunkelheit kam auch die Furcht. Vor dem Unbekannten. Den Toten. Den Nachzerrern.
    Er lag, und eine Starre überfiel ihn. Er kämpfte auch gegen sie und unterlag. Irgendetwas, irgendein Wesen , kam und schnupperte an dem Bolzen. Er lag gekrümmt auf der Seite und bot den Bolzen jedermann dar. Durch den Bolzen verströmte sich pochend sein Dasein in den Wald.
    Er schlief. Irgendetwas rüttelte an dem Bolzen. Murmelte zahnlos. Es war die alte Frau. Sie führte kein Licht mit sich. Alles war Dunkelheit, nicht einmal Mond oder Sterne erreichten den Waldboden. Er trieb auf einem Floß aus Moos durch ein pechschwarzes Labyrinth.
    Er schlief. In seinen Träumen lachte und weinte er. In einem Nirgendwo.
    Etwas rüttelte an ihm. Etwas roch sehr fremd. Etwas zog an seinem Rücken, zog ihm die Wirbelsäule aus dem Leib, riss sämtliche Innereien und Eingeweide mit, ließ nur seine schlafende Hülle zurück. Etwas salbte ihn mit Gestank. Etwas rollte ihn auf den Rücken. Er konnte nun sehen, im Dunkeln sehen. Alle Dinge hatten graue Umrisse. Die Augen der Alten leuchteten hell wie kleine Sonnen. Auch aus ihrem Mund kam Licht.
    Sie riss ihm seinen Lendenschurz weg, zerrte ihn frei.
    Ächzend stieg sie auf ihn auf und ritt ihn. Ihr zahnloser Mund glänzte vor seinem Gesicht, das Licht der Milchstraße enthaltend, ihr langes graues Haar wischte über seine Stirn. Ihre Brüste hingen schlaff bis zu ihm herab.
    Und dennoch fühlte es sich gut an, besser als alles andere davor. Er überließ sich.
    Es wurde hell,
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