Bangkok Tattoo
lebte in einem bescheidenen Pfahlholzhaus außerhalb des Ortes, inmitten eines grünen Gartens, wie Araber sich gern das Paradies vorstellen. Der Querbalken eines alten artesischen Brunnens verband Himmel und Erde in einer Oase ohne Strom- und Telefonkabel. Keine fünf Minuten vom Haus des Geistlichen entfernt befand sich eine hübsche kleine Moschee mit einer Kuppel und einem winzigen Minarett. Bei seinem ersten Besuch wurde Mitch von Leibwächtern begleitet. Einer von ihnen sprach mit einer Bediensteten, die ihnen mitteilte, der Geistliche sei gerade ins Gebet vertieft, werde Mitch aber später empfangen. Mitch nahm im Schneidersitz auf einer Bodenmatte Platz, trank süßen Pfefferminztee und unterhielt sich mit den Bodyguards, die offenbar ahnten, daß er unbewaffnet war, und ihn nicht durchsuchten. Dann tauchten bärtige Männer mit langen Gewändern und Scheitelkäppchen auf, die ihn nicht beachteten.
Wenig später erschienen fünf ältere Männer mit grauen Bärten und kerzengerader Haltung, setzten sich in einer fließenden Bewegung auf den Boden, schlossen seufzend die Augen und verständigten sich murmelnd. Erst nach ein paar Minuten kam auch der Imam. Ein junger Mann übersetzte seine Worte für Mitch: »Wir haben gerade über den großen Abu’l Walid Muhammad Ibn Rushd gesprochen.« Mit eleganter Geste arrangierte der Imam sein Gewand und fragte dann im Flüsterton: »Wollen wir unsere Studien fortführen?«
»So Gott will«, murmelten die anderen.
Erst jetzt merkte Mitch, daß er in ein Gelehrtengespräch geraten war, in dem die Worte eines Weisen diskutiert wurden. Mitch war fasziniert, beschloß aber, vor der Tür zu warten, bis das Treffen vorüber wäre. Also erhob er sich, verneigte sich mit einem wai und verließ mit, wie er meinte, sehr lauten Schritten den Raum.
Er ging zum Brunnen. Mittlerweile war schon fast die Dämmerung hereingebrochen, was bedeutete, daß der Imam beten würde, bevor er Zeit für Mitch hätte. Und tatsächlich kam die ganze Gruppe aus dem Haus, schlenderte zur Moschee hinüber und verschwand genau in dem Augenblick darin, als der Ruf des Muezzin erklang. Die Sonne verabschiedete sich; nun hing die Mondsichel groß und hell über einer Palme. Es überraschte Mitch nicht, daß es dem Imam gelang, sich lautlos von hinten zu nähern. Er bemerkte ihn erst, als dieser hüstelte.
Der Imam sprach mit sanfter Stimme in förmlichem, nicht ganz akzentfreiem Englisch: »Frieden auf der Welt wird es erst geben, wenn Hollywood Filme mit nichtamerikanischen Helden macht. Laut Ibn Qutaiba wurde ein Rosenstrauch in den Gärten von Hindustan gepflanzt, dessen leuchtend purpurrote Blütenblätter in arabischer Schrift folgende berühmte Zeile aus dem Koran trugen: Es gibt keinen anderen Gott als Ihn; Mohammed ist Sein Prophet. «
»Verstehe«, sagte Mitch wie durch einen Zauber gebannt.
»Das ist alles? So sah seine Form des Islam aus?« frage ich Chanya, die nackt neben mir liegt und den Geräuschen der Nacht lauscht.
»An mehr erinnere ich mich nicht. Zu der Zeit waren seine Ausführungen nicht gerade zusammenhängend.«
»Und die Tätowierung?«
Das horimono war eine andere Sache, denn es erforderte konkrete Entscheidungen. Chanya begreift es als das männliche Äquivalent zur weiblichen Brustvergrößerung, als Körperveränderung, die das persönliche Schicksal beeinflußt. Über den Tätowierer weiß sie nur, daß er zu Mitchs japanischen Kontakten gehört, die er sich als CIA-Agent in Tokio aufbaute. Wie so oft besaßen diese Kontakte Verbindungen zur Unterwelt, zur yakuza. Im Internet kursierten Gerüchte über einen verrückten Tätowierer, der sich eines Nachts mit einem yakuza- Boßbetrank und ihn zu einer Fudschijama-Tätowierung auf der Stirn überredete. Angeblich war der Mann, ein Meister seines Fachs, ein Genie in der Tradition der alten Holzschnittkunst, in Bangkok untergetaucht, wo er verzweifelt nach Arbeit suchte. Mitch fiel es nicht schwer, ihn aufzuspüren.
Der japanische Tätowierer verbrachte eine Woche in Mitchs Gästezimmer in Songai Kolok. Er und Chanya konnten sich anfangs nicht ausstehen. Sie fand den Stummel seines kleinen Fingers abstoßend, und als er sich bei der Arbeit bis auf die Shorts entkleidete, wurde ihr klar, daß sie die Wohnung mit einem Ungeheuer teilte.
Zunächst sprach er überhaupt nicht mit ihr, was sie als rüde Verachtung für ihr Gewerbe interpretierte. Erst später merkte sie, daß er seiner Stotterei wegen krankhaft
Weitere Kostenlose Bücher