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Bacons Finsternis: Roman (German Edition)

Bacons Finsternis: Roman (German Edition)

Titel: Bacons Finsternis: Roman (German Edition)
Autoren: Wilfried Steiner
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diesen Bildern gelesen, Interviews mit dem Maler, Analysen von Experten, maltechnische Abhandlungen. Brachte mich das nun der Essenz des Werkes näher? Oder entschärfte das Wissen die unmittelbare Wirkung des Gemäldes, und das »Nervensystem«, von dem Bacon so oft gesprochen hatte, wurde vom Verstand geschützt? Schob sich das, was ich in Erfahrung gebracht hatte, zwischen meinen Blick und die Bilder? Empfand ich weniger, weil ich mehr wusste?
    So einfach war es nicht. »Du musst das dialektisch sehen«, hätte Sebastian gesagt. Die Kenntnis des Konflikts zwischen Francis und Eddie Bacon ließ zwar eine von vielen Deutungsvarianten stärker hervortreten und andere verblassen, aber im Gegenzug vertiefte sie auch die Empathie, steigerte das Ausmaß der Erschütterung. Gerade weil ich die Darstellung des Schmerzes auf ein konkretes Ereignis im Leben eines anderen Menschen bezog, konnte sich mein Mitgefühl schamlos entfalten, ohne Gefahr zu laufen, als getarntes Selbstmitleid entlarvt zu werden. Am Ende fiel ich aber doch auf meine eigene Verletzung zurück, spürte, wie der Zorn in mir hochstieg, die eitle Fassungslosigkeit über meine Vertreibung aus einem gefälschten Paradies. Übertragung abgeschlossen.
    Gleichzeitig begriff ich in diesem Moment zum ersten Mal Bacons radikale Weigerung, Aussagen zu den Inhalten seiner Bilder zu treffen. Der Hass gegen alles Narrative, Anekdotische, Illustrative war nichts als das Aufbegehren gegen jeden Versuch, die ungestüme Kraft der Bilder zu zügeln. Diese Gemälde waren wie Raubtiere, und nichts sollte sie zähmen, kein falsches Verständnis sie besänftigen, keine Beschwichtigung durch die Vernunft ihre Gefährlichkeit mindern.
     
    Vor einem grauen Vorhang, in dem eine Sicherheitsnadel steckt, liegt etwas.
    Es könnte eine Bowlingkugel sein oder ein rundes Gefäß mit einem weißen Henkel.
    Oder ein schwarzes, monströses Ei, aus dem gerade etwas schlüpft. Etwas Grauenvolles. Jeder, der es sieht, wird den baldigen Tod des Wesens herbeiwünschen. Die Erlösung, das Ende der Bedrohung. Unter blauschuppigen Lidern eine waagrechte Pupille. Die weißgraue Form darunter könnte der Schnabel eines prähistorischen Raubvogels sein, oder eine scharfe Zahnreihe, nein, ein einziger Zahn, der geformt ist wie eine Zahnreihe, aber mit nur einem Zwischenraum. Das Schwarz des Rachens wird nach unten hin begrenzt von einer Art Kiefer aus aneinandergereihten scharfen Knochensplittern.
    Dieser Kiefer könnte aber auch der abgenagte Unterarm eines Kindes sein, denn aus dem oberen Ende dieser Formation ragen drei oder vier knochenbleiche Fingerglieder. Hat das Ungeheuer, kaum aus dem Ei geschlüpft, schon ein Kind gefressen? Raubvogelkopf, Echsenkopf, Menschenfresserkopf. Beware, beware! Wehe, dieses Geschöpf wird auf die Menschheit losgelassen.
    Dreißig Jahre nach seiner Erschaffung durch Bacon befreite es der Schweizer Künstler HR Giger aus seinem Gefängnis und hetzte es in einem Raumfrachter namens Nostromo auf die Besatzung. Giger hatte in mehreren Interviews angegeben, Bacons Head II habe ihn bei der Kreation des Monsters in Alien inspiriert. In gewisser Weise war also Bacons Kopf von 1949 die Mutter aller Aliens. Ich stand vor einem Bild, ohne das es Isabels Buch nie gegeben hätte. Ich hätte es ihr gerne gezeigt.
    Jemand stieß mir seinen Ellbogen in den Rücken. Eine Schulter erwischte mich am Kinn. Eine Gruppe von Kunstfreunden wurde in großer Eile durch den Saal geschleust. Ich wartete, bis die Stampede über mich hinweggebraust war, dann rappelte ich mich auf und ging näher an das Bild heran.
    Das Grau des Vorhangs war in mehreren pastosen Farbschichten aufgetragen worden, bis die Oberflächentextur dick, rauh und ledrig geworden war wie die Haut eines Elefanten. Die Trennlinien zwischen Figur und Hintergrund waren verwischt, der Kopf und die Falten des Vorhangs durchdrangen einander, verschmolzen zu einem Konglomerat aus Tierhaut, Stoff und Knochen. Ein weißer Pfeil schwebte im unteren Drittel des Bildes, er zeigte geradewegs in bodenlose Schwärze, in ein geballtes Nichts.
    Im Vergleich dazu wirkte das kleine Portrait of George Dyer, 1967 im nächsten Raum beinahe heiter: vor einem leuchtend grünen Hintergrund Dyers Profil, mit geschlossenen Augen und einem zum Hals hinuntergerutschten rechten Ohr. Über der Wange ein breiter weißer Strich, wie mit dem Rasierpinsel über die Haut gewischt. Was George zum Leben erweckte, waren drei gelbe Spuren, eine zwischen rechter
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