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Bacons Finsternis: Roman (German Edition)

Bacons Finsternis: Roman (German Edition)

Titel: Bacons Finsternis: Roman (German Edition)
Autoren: Wilfried Steiner
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Unterlippe und Wange, eine, die von der verborgenen linken Seite des Gesichts herüberblitzte, und eine, die von der Nasenwurzel bis zum rechten Augenlid verlief. Ein unverhofft aufblühendes Gelb; drei Sonnenstrahlen, die kurz vor Ende des Tages noch einmal zwischen den Wolken hindurchfunkelten und einen Landstrich, der schon farblos im Schatten lag, noch einmal aufglimmen ließen. 1967. Noch war es für George nicht vorbei, auch wenn die Dunkelheit zunahm. Es blieben ihm noch vier Jahre.
     
    Vor dem Soho-Porträt von Isabel Rawsthorne lagen drei Fotos in der Vitrine, ein Ganzkörperbild und zwei Profilaufnahmen. Wie auf den Gemälden, aber in Schwarzweiß: die blitzenden Ohrringe, der kühne Blick, die hohen Wangenknochen. Der Stolz eines unbeugsamen Menschen. Die Frau, die Bacon so oft gemalt hatte wie keine andere. In einem Interview mit Paris Match hatte er sogar damit geprahlt, mit ihr geschlafen zu haben. Die einzige Geliebte seines Lebens. Als sie 1992 starb, vereinsamt und alkoholkrank, verlor er die letzte Freundin des alten Soho-Kreises. Er überlebte sie nur um Monate.
    So sah ich sie wieder, die andere Isabel.
     
    Three Studies for Portrait of Lucian Freud, 1965 : drei Köpfe in einem Flammenmeer aus Karmesinrot. Auf der linken Tafel hält Freud die Hand vor die Augen, als müsse er sich gerade im Colony Room den Monolog eines Idioten anhören. Im mittleren Bild wirbeln die Gedanken, sichtbar gemacht mit einer einzigen kühnen Drehung eines breiten Pinsels, um seine Stirn, schweben als weiße Schlaufe zwischen den Augen, bis er auf der dritten Tafel endlich seinen Mund öffnet, einen spöttischen Mund, mit abfällig nach unten gezogener Unterlippe. Seine Antwort wird nicht sehr freundlich gewesen sein.
    Auf jedem der drei Gesichter schimmerte die Glut eines inwendigen Feuers. Es war seltsam, vor Freud-Bildern zu stehen, die Bacon gemalt hatte. Ich dachte an das Porträt in meinem Schrank. Suchte das Gefühl des Triumphes, aber es wollte sich nicht einstellen. Ich sagte mir Sätze auf, kleine Mantras zur Selbstüberzeugung:
    Ich habe das Bild. Niemand wird es bei mir suchen. Obwohl es eines der meistgesuchten der Welt ist. Eines der schönsten Gemälde aller Zeiten. Es gehört jetzt mir. Nicht dem neuen Liebhaber meiner Frau, nein, mir, dem Verlassenen. Ich bin kein Verlierer mehr. Ich sollte mich freuen. Ich muss mich freuen.
    Die Wirkung hielt sich in Grenzen.
    Plötzlich entdeckte ich auf der Oberlippe des linken Kopfes eine kleine Feder.
    Ich nahm meine Lesebrille aus dem Etui, setzte sie auf und ging so nahe an die linke Tafel heran, dass meine Haarspitzen beinahe das Glas berührten.
    Es war keine gemalte Feder, sondern eine echte. Eine winzige Daune vom Atelierboden, von Bacon mithilfe eines Pinsels oder Lappens dem Freund auf die noch schweigende Lippe gezaubert.
    Das Gefühl, das mich da befiel, kannte ich schon. Der Boden trug nicht mehr. Und doch war es anders als im Kunsthistorischen Museum. Noch nie hatte mich so sehr das Bewusstsein durchströmt, am Leben zu sein. In diesem Moment. Darauf war ich nicht vorbereitet. Mir wurde schwarz vor Augen, ich kippte um.
    Etwas war zwischen die Wirklichkeit und ihr Abbild geraten. Ein unsichtbarer Korridor, ein Verbindungsgang in der Luft.
    Der Durchgang zur anderen Welt hatte sich geöffnet, einen Wimpernschlag lang.
    Sternentor, hätte Isabel Valentin gesagt.

 
    Sieben
     
    Wie so oft nach einer längeren Abwesenheit von zu Hause durchwühlte ich meine Platten- und CD-Sammlung, um den passenden Song für das Isabel-Ritual zu finden. Über Musik gelang es mir am besten, ihr Bild erscheinen zu lassen. Es war eine Beschwörung, ein Heranlocken ihres Schattens aus der Gegenwelt, in der sie jetzt lebte. Manchmal vermochte ich sie mir so plastisch herbeizuwünschen, dass ich einen Arm um sie legen konnte, um mit ihr einen Slowfox zu tanzen, wie damals auf der Veranda in Altaussee. In anderen Momenten spürte ich den Hauch einer Lippenberührung im Nacken oder ein Streichen ihrer Fingerkuppen über meinen Oberarm. Das Ritual hatte aber auch seine Nachteile. Danach ging es mir unter Garantie schlechter als vorher.
    An diesem Abend, zwei Stunden nach meiner Rückkehr aus Hamburg, konnte ich mich lange nicht entscheiden. Album um Album nahm ich aus dem Regal und stellte es wieder zurück. Schließlich wählte ich A Stitch in Time von den Twilight Singers. Das Cover zeigte ein zerbrochenes und völlig verdrecktes Waschbecken. Dahinter gelbbraun verschmierte
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