Avalon 04 - Die Hüterin von Avalon
Haus der Priesterschülerinnen, um sich umzuziehen. Seit mehr als einem Jahr war ihre Welt hier auf die Inselgemeinschaft beschränkt. Was konnte sie ihnen erzählen? Würde sie einer von denen, die sie aus Camulodunon kannte, überhaupt wiedererkennen?
Sie war nun seit zwei Sommern auf der Druideninsel. Die Ernte war reichlich ausgefallen, so wie Helve es vorhergesagt hatte. Bis zur Mittsommerwende hing die Gerste schwer an den Stängeln, und die Lämmer wurden auf dem üppig satten Gras immer fetter. Aber all jene, die den Weissagungen des Orakels gut zugehört hatten, sahen im sommerlich reichen Segen der Natur auch ein böses Omen. Denn wenn sich Helves Prophezeiungen bezüglich der Ernte erfüllt hatten, dann würde womöglich auch das eintreten, was sie über die römische Invasion gesagt hat.
Eilig zog Boudicca das weiße Gewand über den Kopf und fuhr sich mit dem Kamm durch das dicke Haar. Brenna und Morfad waren bereits dabei, sich einen Kranz aus Sommerastern um das Haupt zu binden. Geschwind griff sie nach ihrem eigenen Kranz und eilte den anderen nach, rannte den Weg hinab, der von Oakhalls hinunter an die Küste führte.
Während sich der Chor der jungen Priesterschüler und -schülerinnen hinter den Oberdruiden formierte, fuhr über das blaue Wasser eine Barke heran. An der engsten Stelle der schmalen Meeresstraße fielen die Klippen zu beiden Seiten steil ab. Die Boote machten daher weiter unten fest, an einem schmalen, sandigen Uferstreifen zwischen Klippen und Sandbänken. Über dem Wasser hing ein dunstiger Schleier, sodass sie auf der Barke nichts erkennen konnte außer ein paar Gewändern, die sich als helle, verschwommene Flecken abzeichneten, und einem goldenen Funkeln. Ein weiteres Schiff fuhr herein, auf dem sie flüchtig die Umrisse von Pferden ausmachen konnte. Kein Zweifel, der Rest des Gefolges hatte weiter unten festgemacht und sein Lager dort aufgeschlagen.
Den Ruf des Erzdruiden hatten alle südlichen Stämme vernommen. Aber würden sie ihm auch Folge leisten? Keiner in Oakhalls schien daran Zweifel zu hegen. Doch wenn selbst der so fähige Cunobelin lediglich die Trinovanten und die Catuvellaunen unter sein Joch zu bringen vermochte, wie sollte es dann Lugovalos gelingen, Stämme zu vereinen, die seit der Ankunft ihrer Väter auf der Insel verfeindet waren?
Als die Barke die Mitte der Meerenge erreicht hatte, schien sie langsamer zu werden, als sei sie auf ein Hindernis gestoßen. Boudicca erinnerte sich an genau jenen Moment ihrer eigenen Ankunft, als auch sie, so arglos und erschöpft sie auch gewesen war, die bremsende Kraft der unsichtbaren Mauer hatte spüren können, die Mona schützend umgab.
»Wer nähert sich der Heiligen Insel?« Lugovalos’ Stimme schallte laut über das Wasser.
»Die Könige Britanniens, die gekommen sind, sich mit dem Weisen zu beraten«, tönte es zurück. Doch die Antwort schien nicht nur durch die Ferne seltsam verzerrt.
»Dann fahrt ein, im Willen der mächtigen Götter …«, rief der Erzdruide, und die Priester und Priesterinnen, die versammelt hinter ihm standen, begannen zu singen. Zur Begrüßung des Zuges, mit dem Boudicca gekommen war, hatte kein Druidenchor bereitgestanden, nur zwei Priester und eine Priesterin. Aber als deren Stimmen die Magie dieses Ortes durchdrungen hatten, da hatte sie ein eigenartiges Prickeln unter der Haut gespürt. Heute standen ein zwölfköpfiger Chor sowie der Erzdruide zur Begrüßung bereit, und ihr Gesang vibrierte durch all ihre Glieder.
Himmel und Erde schienen zu verschmelzen, und für einen kurzen Augenblick schien sie darin aufzugehen; all die vielen kleinen Einzelteile ringsum sah sie ineinanderfließen, sah sie schillern, und begriff mit einem Mal, was ihre Lehrer gemeint hatten, wenn sie von der Harmonie aller Dinge sprachen. Als sich ihr Blick wieder schärfte, sah sie die beiden Barken samt den Passagieren klar und deutlich. Doch der ferne Uferstreifen dahinter war nach wie vor verhangen von einem goldenen Dunstschleier.
Die Fahrgäste hatten inzwischen das unsichtbare Hindernis in der Meerenge passiert, und Boudicca erkannte auf Anhieb die beiden Söhne von Cunobelin: den drahtigen Rotschopf Caratac, der das Königreich der Cantiacer übernommen hatte, und Togodumnos, der inzwischen die Ämter und Würden seines Vaters bekleidete und ihr nun viel stattlicher erschien. Daneben erblickte sie zwei Personen, die sie nicht kannte, und hinter Togodumnos erspähte sie einen weiteren Mann –
Weitere Kostenlose Bücher