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Ausser Dienst - Eine Bilanz

Titel: Ausser Dienst - Eine Bilanz
Autoren: Helmut Schmidt
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Werte berufen müssen, um aus der deutschen Geschichte Konsequenzen zu ziehen. Daß es beide Male nicht nur Zustimmung, sondern auch heftige Ablehnung gab, gehört zu den Selbstverständlichkeiten einer offenen Gesellschaft, in der wir es mit einer Vielfalt von Wertvorstellungen zu tun haben.
    Der Politiker steht nicht einfach vor der abstrakten Notwendigkeit, seine Pflicht zu erfüllen. Er ist im Alltag immer wieder mit konkreten Streitfragen konfrontiert, mit widerstreitenden Interessen und komplexen, schwer zu durchschauenden Problemen. Das reicht von einer simplen Veränderung eines Steuersatzes bis zu der schwerwiegenden Entscheidung über Beteiligung oder Nichtbeteiligung an einem Krieg gegen einen Diktator in Asien oder Afrika. Immer aufs neue geht es um die Antwort auf die gleichen Fragen: Was ist hier notwendig? Was ist gerecht? Was dient meinem Land? Was ist zweckmäßig? Was ist in dieser konkreten Lage meine Pflicht?
    Natürlich hat ein Regierender sich vor dem Parlament zu verantworten, ein Abgeordneter muß seinen Wählern (und auch seiner innerparteilichen »Basis«) Rede und Antwort stehen, alle Politiker müssen sich vor der öffentlichen Meinung rechtfertigen. In einer Demokratie ist das wählende Volk die letzte Instanz. Aber die Wähler treffen mit ihrer Wahl meist nur eine allgemeine Richtungsentscheidung, manchmal auch eine direkte Personalentscheidung. Und oft treffen Wähler ihre Entscheidung nicht aufgrund sorgfältiger Abwägung, sondern nach Eingebung, Stimmung und Gefühl. Der Wähler ist niemandem Rechenschaft schuldig. Der gewählte Politiker hingegen muß sich verantworten: bei der nächsten Wahl vor den Wählern (falls er sich zur Wiederwahl stellt), in der Zwischenzeit vor dem Parlament. Aber auch wenn ihm eine Mehrheit des Parlaments, eine Mehrheit der öffentlichen Meinung oder in Ausnahmefällen auch das Verfassungsgericht recht geben: Jeder Politiker muß mit dem, was er tut und was er sagt, vor seinem Gewissen bestehen können. Für mich bleibt das eigene Gewissen die oberste Instanz.
    Was die Moral von uns verlangt, läßt das Grundgesetz offen. Es spricht zwar in Artikel 2 vom »Sittengesetz«, gegen das keiner verstoßen darf; aber dessen Inhalt wird nicht einmal angedeutet. Weil gemeinsame moralische Grundlagen ein unverzichtbares Element jeder Gesellschaft sind, haben Menschen vieler Kulturen sich mit diesem Thema befaßt. Moral und Tugenden sind dem Menschen nicht angeboren, vielmehr lernt er beides durch Erziehung – durch Beispiel, Lob und Tadel. Das »Sittengesetz« scheint demnach nichts anderes zu sein als das im Laufe von Jahrtausenden erzielte Ergebnis dieser Erziehung zur Kultur.
    In Deutschland ist bisweilen von Grundwerten oder von der Wertegemeinschaft die Rede. Meist bleibt unscharf und manchmal sogar umstritten, welche Inhalte damit gemeint sind. Dennoch spielt der Begriff »Grundwerte« seit dem Godesberger Grundsatzprogramm der SPD von 1959 eine erhebliche Rolle im politischen Prozeß. In Godesberg wurden allein »Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität« als die Grundwerte bezeichnet; dabei ist Freiheit vornehmlich ein Grund recht , Gerechtigkeit und Solidarität dagegen sind keine Rechte, sondern vornehmlich Tugenden. Allerdings haben wir in Godesberg weder einen vollständigen Katalog der Grundwerte oder der Tugenden postuliert, noch konnten und wollten wir »letzte Wahrheiten« verkünden. Wohl aber haben wir ein bedeutendes und weithin sichtbares Zeichen gesetzt.
    Heute kommt es entscheidend auf die Tugenden an. Denn die Rechte des einzelnen erscheinen als hinreichend gesichert, die gemeinsame öffentliche Moral hingegen erscheint als gefährdet. Einige Verbände, einige Manager und Funktionäre, einige Politiker geben uns schlechte Beispiele. Es gibt zu wenige herausragende Vorbilder. Daher könnte das Bewußtsein verlorengehen, daß jedermann Verantwortung trägt und daß jedermann moralische Pflichten hat. Es ist deshalb notwendig, zu den Tugenden zu erziehen und an die Pflichten zu erinnern. Diese Notwendigkeit gilt gegenüber jedem politisch engagierten Staatsbürger, sie gilt besonders für den Politiker. Jeder, der Verantwortung für andere hat oder anstrebt, ist nicht nur für seine Ziele und Absichten verantwortlich, sondern ebenso für die Folgen seines Handelns und seines Unterlassens. Je mehr ein Mensch Macht hat über andere, je mehr Einfluß er auf andere und deren Leben ausübt – als Vater oder Mutter, als Vorgesetzter, als Lehrer oder
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