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Ausser Dienst - Eine Bilanz

Titel: Ausser Dienst - Eine Bilanz
Autoren: Helmut Schmidt
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Journalist, als Unternehmer, Manager oder Politiker–, desto schwerer lastet auf ihm die Verantwortung für das Gemeinwohl, um so schwerer wiegen seine Pflichten.
    Beide deutsche Diktaturen, sowohl die Nationalsozialisten als auch die Kommunisten, haben unser Pflichtbewußtsein gröblich mißbraucht. Deshalb glauben einige der nachgeborenen Deutschen, es käme vor allem auf ihre Rechte an. Pflichten wollen sie nur insoweit befolgen, als sie auf staatlicher Macht beruhen und mit der Macht der Gesetze durchgesetzt werden. Tatsächlich sind unsere Rechte auf Dauer jedoch nicht gesichert, wenn nicht unser Pflichtbewußtsein hinzutritt. Keine Gesellschaft freier Bürger kann auf Dauer ohne die Tugenden der Bürger bestehen. Die Nation braucht nicht nur die Grundrechte, sondern ebenso die Tugenden. Beide zusammen bilden die Grundwerte, auf denen unsere demokratische Gesellschaft beruht.
    Nur selten wird ein Politiker in seinen politischen oder philosophischen Überzeugungen oder in seiner Religion Entscheidungshilfen finden. Immer wieder wird er auf seine Vernunft angewiesen sein. Je schwieriger eine Frage, desto wichtiger die Anstrengung der Vernunft. Am Ende aber kommt es auf das persönliche Gewissen an. Das Gewissen wird den Politiker an die Grundwerte erinnern, die er nicht verletzen darf. Politik ohne Grundwerte bleibt gewissenlos – sie kann zum Verbrechen tendieren. Wer dazu beiträgt, die Tugenden im öffentlichen Bewußtsein zu halten und dort fest zu verankern, der leistet dem allgemeinen Wohl, der salus publica, einen notwendigen Dienst.
    Ich will hier nicht in Konkurrenz treten mit meinen philosophischen und politischen Lehrmeistern, nicht mit Karl Popper oder Max Weber, weder mit Immanuel Kant noch mit Marc Aurel, noch mit Konfuzius. Auch gegen Ende meines Lebens eigne ich mich nicht dazu, einen Katalog der im demokratisch verfaßten Staat obligaten Tugenden aufzuschreiben. Die beiden ehrwürdigen Tugendkataloge der christlichen Überlieferung verzeichnen weder den Willen zur Freiheit noch den Willen zum Frieden, nicht einmal den Willen zur Wahrhaftigkeit. Ich halte es für einen gefährlichen Irrtum, die Gesinnungen der Freiheit, des Friedens und auch der Wahrhaftigkeit, die weder zu den theologischen noch zu den Kardinaltugenden gehören, deshalb abzuwerten. Ein Gleiches gilt für die Mißachtung der sogenannten Sekundärtugenden.
    Worauf es mir ankommt, sind Tugenden, die ich die »bürgerlichen« Tugenden nenne: die Tugend des Verantwortungsbewußtseins, die Tugend der Vernunft und die Tugend der inneren Gelassenheit. Wenngleich ich in meinem Leben innerlich nicht gebetet habe, so haben mich doch zwei Gebete tief angerührt, nämlich das Vaterunser und sehr viel später das »Serenity Prayer« des Amerikaners Reinhold Niebuhr: »Gib mir die Gelassenheit, die Dinge zu ertragen, die ich nicht ändern kann; gib mir den Mut, die Dinge zu ändern, die ich ändern kann; gib mir die Weisheit, beides voneinander zu unterscheiden.«
    Von unseren Politikern möchte ich verlangen, daß sie in schwieriger Lage sich an die alte römische Weisheit erinnern: Sa lus publica suprema lex . Im Zweifelsfall soll ihnen das Gemeinwohl höher stehen als ihre Karriere, der Erfolg des Ganzen höher als ihr eigener oder der Erfolg ihrer Partei.
    Wir dürfen von unserer Demokratie keine Wunder erwarten oder gar verlangen. Sie bleibt mit Schwächen und Unvollkommenheit behaftet, und es wird immer auch Streit geben. Gleichwohl haben wir Deutschen angesichts unserer katastrophenreichen jüngeren Geschichte allen Grund, mit Zähigkeit an unserer Demokratie und an unserem sozialen Rechtsstaat festzuhalten, sie immer wieder zu erneuern, ihren Feinden aber immer wieder tapfer entgegenzutreten. Nur wenn wir darin einig sind, nur dann behält der schöne Vers von »Einigkeit und Recht und Freiheit« seine Berechtigung.

Buchveröffentlichungen 1961 – 2008 (in Auswahl)
    Verteidigung oder Vergeltung. Ein deutscher Beitrag zum strategischen
Problem der NATO, Stuttgart: Seewald 1961
    Beiträge, Stuttgart: Seewald 1967
    Strategie des Gleichgewichts. Deutsche Friedenspolitik und die Weltmächte, Stuttgart: Seewald 1969
    Als Christ in der politischen Entscheidung, Gütersloh: Mohn 1976
    Der Kurs heißt Frieden, Düsseldorf: Econ 1979
    Pflicht zur Menschlichkeit. Beiträge zu Politik, Wirtschaft und Kultur,
Düsseldorf: Econ 1981
    Freiheit verantworten, Düsseldorf: Econ 1983
    Die Weltwirtschaft ist unser Schicksal. Wie eine weltweite
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