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Aus dem Überall

Aus dem Überall

Titel: Aus dem Überall
Autoren: James Jr. Tiptree
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eine Gestalt, die sie widerstrebend erkannte: sie selbst.
    Sie begann zu zittern.
    Es waren … es waren keine Erinnerungen.
    Weitere Bilder aus der Vergangenheit. Und dazwischen immer wieder eine glänzende, rotgoldene Kappe – war das ihr Haar?
    Niemand außer ihr selbst kannte diese Bilder der Vergangenheit.
    Niemand außer einem einzigen anderen.
    War er – sah sie endlich den, der – war dieser Alien die Stimme, die ihr Leben lang zu ihr ›gesprochen‹ hatte?
    Sie zitterte heftig, verlor die Kontrolle.
    Dann richtete sich ihr ›Freund‹ auf und drückte beide Hände flach gegen die Scheibe.
    Ein kalter Blitz fuhr ihr ins Herz.
    Sie wollte sich sagen, daß er es nur tat, um sie durch die Luke besser zu sehen. Aber das konnte nicht sein, erkannte sie sofort; so hell war das Licht nicht, und das Vitrex spiegelte nicht.
    Es mußte – oh, bitte, nein, es darf nicht so sein wie bei allen anderen, nicht dieser formelle Abschied. Nicht von dem, der ihr Leben in Händen hielt, der immer bei ihr gewesen war, in allen dunklen Nächten, in allem Schmerz. Der, der ihr gesagt hatte: »Komm!«
    Sie empfing ein drängendes Bild von sich selbst, wie sie die Hände von innen an die Scheibe hielt. Sie sollte reagieren.
    Oh, bitte, flehte sie ins Leere, sage nicht auch du Lebewohl … nicht du, meine Stimme … laß mich nicht allein sterben. Der Kummer war stärker als ihre Mauern, und dicke Tränen traten in ihre Augen. Um sich abzulenken dachte sie daran, für wie unhöflich die anderen sie gehalten hatten, weil sie nicht antwortete.
    Aber der hier bestand darauf. Offenbar empfand er soviel für sie, daß es ihm wichtig war. Nun, sie würde es gleich tun, wenn sie sich besser unter Kontrolle hatte.
    Der Flügel zitterte. Wie ein Mensch, aber mit weitaus größerer Kraft, stampfte der Alien auf. Vielleicht wollte er rasch den anderen nachgehen? Er stampfte noch einmal, noch fester, und klatschte beide Hände gegen die Scheibe und schickte ihr ein Bild, wie sie die Hände, den seinen gegenüber, auf ihre Seite des Vitrex legte.
    Also gut. Lebewohl!
    Blind vor Tränen stand sie auf und drückte die Hände flach ans Fenster, den roten Flecken genau gegenüber. Der Alien machte ein verzweifeltes Geräusch und bewegte die Hände, bis sie die ihren genau deckten.
    Und etwas begann zu fließen. Es war, als würde das Vitrex heiß, oder nicht heiß, sondern geladen. Fast lebendig. CP zitterte so heftig, daß ihre Hände abrutschten; als der Alien wieder aufstampfte, legte sie sie an die richtige Stelle zurück. Der ›Strom‹ begann wieder und brachte eine Flut von Gefühlen, Bildern, wortlosem Wissen, sie wußte nicht was, und alles drang durch ihre übereinanderliegenden Hände zu ihr.
    Der Alien fing ihren Blick ein und sah sie an und brachte langsam die Hände näher an seinen Kopf. Sie folgte ihm ungeschickt.
    Die Gefühle wurden stärker, überwältigend. Sie sank auf die Knie, der Alien folgte ihr, immer noch die Hände vor ihre haltend, durch fünf Zentimeter dickes, hartes Vitrex getrennt. Sie konnte die Hände nicht wegnehmen, selbst wenn sie es gewollt hätte.
    Aber sie wollte ums Leben nicht den Kontakt unterbrechen. Sie lernte – sie verstand, es war unglaublich – daß ihr Leben lang …
    Plötzlich kam ein lautes, volles Geräusch aus dem Lautsprecher: die Stimme des Alien.
    Er mußte es wiederholen, damit sie es verstand.
    »Ca-rol.«
    Ihr Name. Niemand kannte ihn hier.
    »Ca-rol … eh … du … isch …«
    Unverkennbar, wenn auch etwas verfremdet – es war die Stimme.
    Der Alien brauchte jetzt nicht mehr zu erklären, daß die Geste kein Lebewohl war, sondern eine Botschaft.
    Aber das war noch nicht alles. Ironischerweise hatte keiner von ihnen ein Wort dafür, denn es war ein Wort, das CP noch nie benutzt hatte. Eine Weile schien es wichtig, dieses Wort zu finden. Sie machten einen Umweg, streiften ihre Gefühle für die Sterne und für eine Ratte, die sie kurze Zeit einmal als Streicheltier gehalten hatte. Das Erkennen, das Dämmern erschreckte CP so sehr, daß ihre Zähne klapperten. Aber der Alien hielt sie fest und ließ die Bilder weiter strömen, weil es ihm wichtig war. Und am Ende mußte sie alles erfahren.
    Sie mußte erfahren, daß sie – Carol-Page-Schweineschnauze – ihr Leben lang bei Tag und Nacht von einer Liebe eingehüllt gewesen war. Von der Liebe eines Alien, der einen anderen kleinen Alien irgendwo zwischen den Sternen liebte.
    Sie war nie wirklich allein gewesen.
    Sie,
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