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Aus dem Nichts ein neues Leben

Aus dem Nichts ein neues Leben

Titel: Aus dem Nichts ein neues Leben
Autoren: Heinz G. Konsalik
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zusammengeschrumpften deutschen Divisionen, deren einzige Stärke der Wille war, vor der Heimat einen Wall aus Leibern zu bauen. Und der Wind trug wieder das ferne Grollen heran, den Atem der Vernichtung …

2
    Weihnachten wurde ein trauriges Fest.
Nicht nur ganz Adamsverdruß, sondern ganz Ostpreußen saß auf gepackten Koffern, und fluchtbereite Wagen standen in den Scheunen und Garagen. Der Winter war über das Land gefallen mit einem Frost, der die Bäume ächzen ließ. Wenn der Wind um die Häuser pfiff und die Fensterscheiben zitterten, umfaßte Opa Joachim seine dicke Pfeife und sagte tröstend: »Das ist mal gut, Kinder. Bei so einem Wetter greift der Russe auch nicht an. Auch die Kerle aus Sibirien frieren.«
    Er irrte sich. Julius Paskuleit, der in Groß Puppen beim Wirtschaftsamt Gummi und Leder für seine Schuhmacherwerkstatt abgeholt hatte, berichtete von Soldaten, die vom Narew und von der Weichsel kamen. Dort hatten sich, genau wie in Kurland, gewaltige Truppenmassen der Sowjets zusammengezogen und warteten auf den Angriffsbefehl.
    »Man weiß sogar die Namen!« sagte Paskuleit. »Die Marschälle Rokossowskij und Tschernjakowski haben den Oberbefehl übernommen. Sie sollen die besten russischen Heerführer sein.«
    »Alles Quatsch!« widersprach Opa Jochen. »Ich habe auch 'n ›i‹ am Schluß, bin ich deshalb ein großer General?«
    Paskuleit hatte keine Lust, sich mit Kurowski zu streiten, und rannte durch den Schneesturm zu Felix Baum, dem Ortsgruppenleiter. Er war der einzige, der nicht gepackt hatte. Zu Weihnachten machte er eine Gratulationsrunde durch das Dorf, erhielt seinen Schnaps und sagte in jeder Familie vor dem Weihnachtsbaum das gleiche: »Keine Angst, Volksgenossen! Der Führer wird's machen! Das war doch schon immer so: hundert Russen gegen einen Deutschen! Die Front steht wie Kruppstahl! Ihr sollt sehen: Neunzehnhundertfünfundvierzig jagen wir die Roten bis zum Ural. Heil Hitler!«
    Als er am Ende seiner Runde bei Pfarrer Heydicke ankam, konnte er kaum noch gehen und fiel mit glasigen Augen auf das alte Ledersofa.
    »Ich möchte beichten«, sagte er mit schwerer Zunge. »Herr Pfarrer, auch wenn ich besoffen bin, – ich möchte beichten. Was sagt Gott dazu: Ich habe Weihnachten ein ganzes Dorf belogen! Und ich habe Angst! Keine Nacht schlafe ich mehr. Ich bin ein so erbärmliches Schwein, Herr Pfarrer.«
    Er legte den Kopf auf die Tischplatte und heulte.
    Pfarrer Heydicke ließ ihn weinen. Nach einer Stunde gab er Felix Baum Salatöl zu trinken, der Ortsgruppenleiter kotzte erbärmlich, aber dann war er so nüchtern, daß man mit ihm vernünftig reden konnte.
    »Was ist nun?« fragte Pfarrer Heydicke. »Was wissen Sie, Baum?«
    »Die Kreisleitung verlegt nach Allenstein. Provisorisch.«
    »Sauber. Und das soll keiner wissen?!«
    »Um Himmels willen, nein.« Baum trank ein halbes Glas Sprudel, rülpste, sagte verschämt: »Entschuldigung, Herr Pfarrer«, und starrte dann aus dem Fenster auf den Schneesturm. »Aber ich mußte es Ihnen sagen. Ich habe auch meinen Zivilanzug neben dem Bett liegen, griffbereit. Ich bin ein Feigling, nicht wahr?«
    »Der Mensch ist schwach«, sagte Pfarrer Heydicke ausweichend. »Aber es ist gut, daß Sie den Weg zu mir gefunden haben. Wann wird der Russe angreifen?«
    »Das weiß wirklich keiner.« Baum stand auf. Es war zwei Uhr morgens, und es bestand keine Gefahr, daß man ihn um diese Zeit und bei diesem Schneetreiben aus dem Pfarrhaus kommen sehen würde. »Ich habe Telefon, Herr Pfarrer. Rufen Sie bitte jeden Tag zweimal an … Wenn's soweit ist, können Sie ja die Glocken läuten. Ich warte nur auf den Befehl der Kreisleitung …«
    Das neue Jahr begann mit klirrendem Frost, aber einem klaren Himmel. Die Familie Kurowski, die um Mitternacht mit Gläsern voll heißem Tee und einem Schuß Korn darin an den Fenstern stand, umarmte sich, küßte sich und sagte das »Ein gutes neues Jahr« wie ein Gebet.
    »Es ist so still …« sagte Opa Joachim später zu Paskuleit. Die Kinder waren im Bett, Oma Berta war im Sessel eingeschlafen, Erna Kurowski strickte an einem dicken Schal für den vierjährigen Peter. »Das gefällt mir gar nicht.«
    »Erst ist's dir zu laut, dann zu leise – du weißt auch nicht, was du willst«, sagte Paskuleit.
    »Du warst nie im Krieg!« schrie Kurowski. Das neue Jahr sollte sehen, daß er noch immer mit seinen 72 Jahren der ›Brüll-Jochen‹ war. »Im Kriege ist es immer am gefährlichsten, wenn es still ist! Was sagt man
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