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Aus dem Nichts ein neues Leben

Aus dem Nichts ein neues Leben

Titel: Aus dem Nichts ein neues Leben
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Neidenburg, Deutsch-Eylau und Marienwerder wurden Auffanglager eingerichtet, Tilsit wurde von Flüchtlingstrecks überflutet, aber sie blieben nicht lange, denn schon drei Tage später schoß schwere sowjetische Artillerie in die Stadt. Eine lange Schlange vermummter Menschen, mit Handkarren, Pferdewagen, Traktoren, Kutschen und Schlitten wälzte sich aus dem Protektorat bei Flammberg über die Grenze.
    Ortsgruppenleiter Felix Baum rannte wieder durch Adamsverdruß und mahnte zur Ruhe. Die Kreisleitung in Allenstein schrie ihn an, wenn er mehrmals täglich telefonierte und um einen Lagebericht bat. »Sie haben an den Führer zu glauben, an nichts anderes!« brüllte jemand, der sich Lumenski nannte. Baum hatte den Namen nie gehört, aber wer in der Kreisleitung brüllt, hat immer Recht.
    Am 16. Januar sah man in der klaren Frostnacht den Feuerschein der Front. Franz Busko, Paskuleits Schustergeselle, hockte oben neben der Glocke im Kirchturm und brüllte herunter, was er sehen konnte. Ein ewiges Donnern lag in der Luft. Wenn man das Radio anstellte, erklang fröhliche Operettenmusik, oder Fanfaren kündeten Sonderberichte an, die immer mit einem Sieg deutscher Truppen irgendwo in Ost und West endeten.
    »Es wird Zeit«, sagte Pfarrer Heydicke zu den Adamsverdrussern, die vor der Kirche standen. Auch Ortsbauernführer Lusken mit der gelähmten Juliane Brakau im Rollstuhl war gekommen. In der Kirche, vor dem Altar, saß Felix Baum, hilflos, mit gefalteten Händen, in einer Parteileiter-Uniform, die ihm in den letzten Tagen zu groß geworden war.
    Von der Kreisleitung war kein Befehl mehr gekommen. So oft er anrief, man nahm den Hörer nicht mehr ab. Schließlich ertönte nur noch das Besetztzeichen. »Sie haben uns vergessen …«, sagte er mit starren, ungläubigen Augen, als sich Paskuleit – eben ihn setzte. »Die Schweine haben uns vergessen! Bei Klein-Grieben stehen schon russische Panzer an der Grenze. Und die spielen noch immer Operetten und Goebbels hat gestern gesprochen …« Er weinte plötzlich, zog seinen Uniformrock aus, warf ihn vor den Altar auf die Stufen und lehnte sich wie ein Kind an Paskuleit.
    »Ich glaube nicht, daß Gott deine Mistuniform als Stiftung annimmt«, sagte Paskuleit und schob Baum von sich. »Es ist immerhin gut, daß du Rindvieh jetzt wach wirst! Wo ist denn dein Führer?«
    »In Berlin …«
    »Und der Endsieg?«
    »Wenn wir in Sicherheit sind, kannst du mich hundertmal in den Arsch treten, Julius.«
    »Wenn wir überhaupt hier rauskommen. Hast du dir schon Gedanken darüber gemacht? Wohin denn?«
    »Keine Ahnung.«
    »Aber ich. Wir ziehen zuerst nach Westen. Ortelsburg, Hohenstein, Osterode, Saalfeld, Marienburg. Nach Danzig! Und dann ab nach Pommern. Immer an der Küste lang … wenn uns vorher keiner mitnimmt. Es wird doch noch Züge in den Westen geben …«
    »Und die ganzen Klamotten? Die Pferde, Wagen, Möbel, Betten, Herde, das Geschirr …«
    »Es wäre zu schön, wenn wir's retten könnten. Wir nehmen's mit … aber glaubst du wirklich, wir kommen damit bis an die Elbe? Die russischen Panzer sind schneller als ein Zugochse. Und die Straßen sind vereist …«
    Am Nachmittag sammelte sich Adamsverdruß zum Abmarsch. Vor der Kirche fuhren sie auf, Wagen neben Wagen, mit Pferden oder Ochsen bespannt, mit Traktoren oder auch nur Kühen, die störrisch im ungewohnten Joch trampelten. Paskuleit fuhr seinen gegen das Klavier eingetauschten Traktor und zog den Miststreuwagen. In ihm saß in einem Haufen Stroh und von Möbeln umgeben, als müsse man sie festklemmen, Oma Berta. Großvater Jochen hockte auf dem Fuhrsitz des Leiterwagens und lenkte die beiden Pferde, die Paskuleit in Ortelsburg gegen zehn Lederhäute gehandelt hatte. Im Wagen stapelte sich der Hausrat der Kurowskis und die halbe Schuhmacherwerkstatt, alle Werkzeuge und Geräte, der Herd, Töpfe, Federbetten, Decken und eine Eckbank, auf die Opa Jochen nicht verzichten wollte. Sie war 1871 zur Reichsgründung geschnitzt worden. Erna Kurowski saß auf dem Bock der Kutsche, hinter sich, dick in Decken vermummt, die Kinder. Franz Busko, der Geselle, war als Verbindungsmann eingeteilt … er sollte da helfen, wo es nötig war.
    Es begann sanft und lautlos zu schneien, als Pfarrer Heydicke die Leute von Adamsverdruß segnete. »Gott mit euch!« sagte er, schlug das Kreuz, kletterte auf seinen Bauernwagen und fuhr an. Er übernahm die Spitze, ihm folgte Paskuleit, dann die Familie Kurowski. Der große Treck begann.

3
    Sie
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