Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Auferstehung 1. Band

Auferstehung 1. Band

Titel: Auferstehung 1. Band
Autoren: Leo N. Tolstoi
Vom Netzwerk:
gingen mit ernstem, langsamem Schritte, die Hände auf dem Rücken, auf und nieder. Die Nuntien, die Advokaten, die Anwälte spazierten hin und her, die Bittsteller und die auf freien Fuß belassenen Angeklagten drückten sich demütig an die Wand oder blieben wartend auf den Bänken sitzen.
    »Das Bezirksgericht?« fragte Nechludoff einen der Aufseher.
    »Was für eins? Kriminal oder Zivil?«
    »Ich bin Geschworener!«
    »Dann handelt es sich um das Schwurgericht! Das hätten Sie gleich sagen sollen! Gehen Sie nach rechts und dann links die zweite Thür!«
    Nechludoff trat in die Korridore.
    Vor der Thür, die der Aufseher ihm bezeichnet hatte, standen zwei Männer in eifriger Unterhaltung begriffen. Der eine war ein dicker Kaufmann, der jedenfalls als Vorbereitungauf seine Aufgabe tüchtig gegessen und getrunken hatte; denn er schien in sehr lustiger Gemütsverfassung; der andere war ein Kommis jüdischer Herkunft. Die beiden Männer unterhielten sich von den Wollpreisen, als Nechludoff auf sie zutrat und sie fragte, ob sich hier die Geschworenen versammelten.
    »Ja, hier, mein Herr; ganz recht hier! Sie sind jedenfalls auch ein Geschworener, einer unserer Kollegen?« fügte der brave Kaufmann lächelnd und augenblinzelnd hinzu.
    »Na, dann werden wir zusammen arbeiten,« fügte, er auf Nechludoffs bejahende Antwort hinzu. – »Baklaschoff von der zweiten Gilde,« sagte er, dem Fürsten seine breite Hand reichend. »Und mit wem habe ich die Ehre?«
    Nechludoff nannte seinen Namen und trat in das Geschworenenzimmer.
    »Sein Vater war beim Kaiser attachiert,« murmelte der Jude.
    »Er hat Vermögen?« fragte der Kaufmann.
    »Ein schwerreicher Mann!«
    In dem kleinen Geschworenenzimmer waren zehn Männer aus allen Lebensstellungen versammelt. Alle waren eben erst gekommen; die einen saßen, die andern gingen auf und ab. Man betrachtete sich und knüpfte Bekanntschaft an. Da war ein pensionierter Oberst in Uniform, andere Geschworene waren im Gehrock, im Jacket; ein einziger hatte seinen Frack angezogen. Mehrere von ihnen hatten ihre Geschäfte im Stich lassen müssen, um ihre Geschworenenpflicht auszuüben, und beschwerten sich bitter darüber; dabei las man aber doch auf ihren Gesichtern eine stolze Genugthuung und das Bewußtsein, eine hohe soziale Pflicht zu erfüllen.
    Als die erste Prüfung beendet war, war man in einfachen Gruppen zusammengetreten. Man unterhielt sich vom Wetter, von dem frühzeitigen Anbruch des Frühlings und den zur Verhandlung kommenden Fällen. Eine große Anzahl von Geschworenen drängte sich danach, mit dem Fürsten Nechludoff Bekanntschaft zu machen, denn sie waren augenscheinlich der Meinung, er wäre ein hervorragender Mensch. Nechludoff fand das berechtigt und natürlich, wie er es stets bei solchem Anlaß that. Hätte man ihn gefragt, warum er sich der Mehrzahl der Menschen überlegen betrachtete, er wäre außer standegewesen, darauf zu antworten, denn sein Leben hatte in der letzten Zeit namentlich nichts sehr Verdienstliches aufzuweisen gehabt. Er konnte allerdings fließend englisch, französisch und deutsch sprechen; seine Wäsche, sein Anzug, seine Kravatten, seine Manschettenknöpfe kamen stets aus den ersten Geschäften, und waren stets die teuersten, die es gab; doch er selbst behauptete nicht, daß das genügend war, um sich als ein höheres Wesen aufzuspielen. Und doch war er von dem Bewußtsein seiner Bedeutung tief erfüllt; er war überzeugt, daß man ihm die Hochachtung, die man ihm entgegenbrachte, schuldig war, und die Vernachlässigung derselben verletzte ihn wie eine Schmach.
    Eine Schmach dieser Art erwartete ihn gerade im Geschworenenzimmer. Unter den Geschworenen befand sich jemand, den er kannte, ein gewisser Peter Gerassimowitsch – seinen Familiennamen hatte Nechludoff nie erfahren – der bei den Kindern seiner Schwester Hauslehrer gewesen war. Dieser Peter Gerassimowitsch hatte inzwischen seine Studien beendet und war jetzt Gymnasiallehrer. Nechludoff hatte ihn wegen seiner Vertraulichkeit, seines selbstgefälligen Lächelns und seiner schlechten Manieren stets unausstehlich gefunden.
    »Ach, das Los hat Sie also auch getroffen?« sagte er zu Nechludoff und trat mit lautem Lachen auf ihn zu. »Und Sie haben sich nicht dispensieren lassen?«
    »Nie hatte ich die Absicht, mich dispensieren zu lassen,« versetzte Nechludoff trocken.
    »Na, das ist ein schöner Zug bürgerlichen Mutes. Sie werden sehen, wie Sie unter dem Hunger leiden werden! Und dabei kann
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher