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Auf Treu und Glauben: Commissario Brunettis neunzehnter Fall (German Edition)

Auf Treu und Glauben: Commissario Brunettis neunzehnter Fall (German Edition)

Titel: Auf Treu und Glauben: Commissario Brunettis neunzehnter Fall (German Edition)
Autoren: Donna Leon
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eintrifft oder nicht, ist ihr gleichgültig, da steht ja eh nie was Genaues, oder? ›Sie werden eine Reise unternehmen.‹ Wenn sie am nächsten Tag zum Rialto-Markt geht, um Gemüse einzukaufen: Da hat sie ihre Reise.«
    Vianello erwähnte seine Tante nicht zum ersten Mal: Sie war die Lieblingsschwester seiner verstorbenen Mutter und seine Lieblingstante, offenbar, weil sie von allen in der Familie den stärksten Willen besaß. In den fünfziger Jahren hatte sie einen Elektrikerlehrling geheiratet, der wenige Wochen nach der Hochzeit auf der Suche nach Arbeit in Richtung Turin verschwunden war. Sie wartete fast zwei Jahre lang, bis sie ihn wiedersah. Zio Franco hatte Glück gehabt und schließlich bei Fiat Arbeit gefunden, wo man ihm ermöglicht hatte, die Meisterprüfung abzulegen.
    Zia Anita zog nach Turin, und sie lebten dort sechs Jahre. Nach der Geburt ihres ersten Sohns zogen sie nach Mestre, wo Zio Franco seinen eigenen Betrieb aufmachte. Die Familie wuchs, der Betrieb wuchs: Beides gedieh prächtig. Erst Ende der Siebziger hängte Zio Franco sein Geschäft an den Nagel und zog zur Überraschung seiner Kinder, die alle auf der terraferma aufgewachsen waren, nach Venedig zurück. Gefragt, warum keins ihrer Kinder mit ihnen nach Venedig wollte, hatte Zia Anita geantwortet: »Die haben Benzin im Blut, kein Salzwasser.«
    Brunetti wollte sich gern anhören, was Vianello ihm von seiner Tante zu erzählen hatte. Es würde ihn davon abhalten, alle paar Minuten ans Fenster zu treten, um nachzusehen, ob… Ob was? Ob es angefangen hatte zu schneien?
    »Seit neuestem sieht sie sich die im Fernsehen an«, sagte Vianello.
    »Horoskope?«, fragte Brunetti verblüfft. Er sah nur unregelmäßig fern, gezwungenermaßen, wenn jemand anders in der Familie den Kasten anmachte, und hatte keine Ahnung, was es dort alles zu sehen gab.
    »Ja. Oder vielmehr diese Kartenleger und Wahrsager, die behaupten, sie können deine Probleme lösen.«
    »Kartenleger?«, konnte er nur wiederholen. »Im Fernsehen?«
    »Ja. Da rufen Leute an, und dann liest jemand die Karten für sie und erklärt ihnen, wovor sie sich hüten sollen, oder verspricht ihnen Beistand, wenn sie krank sind. So habe ich es jedenfalls von meinen Cousins gehört.«
    »Pass auf, dass du nicht die Treppe runterfällst? Hüte dich vor einem großen dunkelhaarigen Fremden?«, fragte Brunetti.
    Vianello zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Ich habe es selbst nie gesehen. Kommt mir lächerlich vor.«
    »Nein, nicht lächerlich, Lorenzo«, erklärte Brunetti. »Seltsam, mag sein, aber nicht lächerlich.« Und nach kurzem Nachdenken: »Vielleicht auch gar nicht mal so seltsam.«
    »Warum?«
    »Weil sie eine alte Frau ist«, sagte Brunetti. »Wir neigen zu der Annahme – wenn Paolo oder Nadia jetzt hier wären, würden sie sagen, ich sei voreingenommen –, dass alte Frauen leichtgläubig sind.«
    »Hat man sie aus diesem Grund nicht auch als Hexen verteufelt?«, fragte Vianello.
    Brunetti hatte zwar einmal große Teile des Hexenhammers gelesen, aber trotzdem nie begriffen, warum damals ausgerechnet alte Frauen verbrannt worden waren. Vielleicht, weil viele Männer dumm und böse sind, oder aber alte Frauen schwach und ohne Fürsprecher.
    Vianello wandte seine Aufmerksamkeit dem Fenster und dem Licht zu. Brunetti spürte, der Ispettore wollte sich nicht drängen lassen; früher oder später würde er von allein mit seinem Anliegen herausrücken. Fürs Erste ließ Brunetti ihn das Licht studieren und nutzte die Gelegenheit, seinen Freund zu beobachten. Vianello vertrug Hitze ohnedies nicht gut, schien aber in diesem Sommer noch mehr darunter zu leiden als sonst. Sein verschwitztes Haar war dünner, als Brunetti es in Erinnerung hatte. Und sein Gesicht wirkte aufgequollen, besonders um die Augen.
    Vianello riss Brunetti aus seinen Betrachtungen: »Meinst du, alte Frauen sind wirklich gutgläubiger?«
    Brunetti dachte darüber nach. »Ich weiß es nicht. Du meinst, gutgläubiger als unsereiner?«
    Vianello nickte und wandte sich wieder dem Fenster zu, als wollte er die Vorhänge zwingen, sich ein wenig mehr zu bewegen.
    »Nach dem, was du mir im Lauf der Jahre von ihr erzählt hast, scheint sie mir gar nicht der Typ für so etwas zu sein«, sagte Brunetti schließlich.
    »Stimmt schon. Deswegen ist es ja so beunruhigend. Sie war immer der klügste Kopf der Familie. Mein Onkel Franco ist ein guter Mensch, und er war ein sehr fleißiger Arbeiter, aber er wäre nie von sich aus auf
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