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Auf der Spur des Hexers

Auf der Spur des Hexers

Titel: Auf der Spur des Hexers
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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Haar, nicht sehr viel älter als Bob.
    Bob.
    Andara schluckte mühsam. Ein bitterer Geschmack lag auf seiner Zunge. Seine Augen brannten und fühlten sich geschwollen an. Für einen Moment wünschte er sich, weinen zu können.
    Er hatte gewusst, dass es schlimm sein würde. Aber er hatte nicht gewusst, wie schlimm. Es war fast wie damals, als Jenny starb – nein: schlimmer. Damals war der Schmerz entsetzlich gewesen, so entsetzlich, dass ihm selbst der Tod als eine Erlösung erschienen war und er ihr vielleicht freiwillig gefolgt wäre, wäre Bob nicht dagewesen. Aber zwei Dinge waren anders: Damals war Bob dagewesen, und obwohl er nichts als ein wenige Wochen altes schreiendes Bündel gewesen war, das ihn sich hilflos und plump vorkommen ließ und zu dem er keine wirkliche Beziehung zu haben glaubte, hatte er seinem Leben doch noch einen Sinn gegeben. Und damals hatte er nichts tun können. Jennys Tod hatte ihn getroffen wie ein Blitz aus heiterem Himmel, so überraschend und mit so fürchterlicher Wucht, aber es war nicht seine Schuld gewesen. Jetzt war Bob nicht mehr da, und was er ihm angetan hatte, unterschied sich allenfalls in juristischer Hinsicht von Mord. Bob – der Bob, den er aufgezogen und lieben gelernt hatte wie nichts anderes auf der Welt – war nicht mehr da. Er hatte ihn zerstört.
    Der Wagen hatte gewendet und setzte sich mit einem unnötig harten Ruck in Bewegung. Unter den Hufen der Pferde und den eisenbeschlagenen Rädern wirbelte trockener brauner Staub auf, als sie die Hauptstraße hinunterzurollen begannen. Andara beugte sich vor und schloss das Fenster, obwohl es dadurch noch heißer in der Kutsche zu werden schien. Er vermied es absichtlich zurückzublicken, obwohl die Straße gerade wie mit einem Lineal gezogen verlief und dazu noch hügelaufwärts, sodass er Maude Cravens Haus noch eine ganze Weile hätte sehen können. Er dachte daran, was ihm sein Lehrmeister vor so langer Zeit einmal gesagt hatte: Sorge dafür, dass sie dich hinauswirft, wenn du ihr den Abschied erleichtern willst. Andara lächelte; sehr dünn, sehr flüchtig und sehr bitter. Oh ja, er hatte ihr den Abschied erleichtert, und wahrscheinlich würde sie ihn hassen oder, schlimmer noch, verachten, und beides hatte er gewollt, aber er hatte nicht gewusst, wie weh es tun würde. Einen Moment – einen ganz kurzen Moment nur dachte er an Selbstmord, sehr sachlich und sehr ernst. Aber er verscheuchte den Gedanken, ehe dieser sich weit genug einnisten konnte, um gefährlich zu werden, zog stattdessen die Vorhänge vor den Fenstern zu und lehnte sich auf den zerschlissenen Polstern zurück. Er hatte fast zwei Stunden, ehe sie den nächsten Bahnhof erreichten und er den Zug nehmen konnte, der ihn nach Denver zurückbrachte; wenn der Kutscher die verlorene Zeit wenigstens halbwegs wieder aufholte und die UNION PACIFIC seine Pläne nicht vereitelte, indem sie zum ersten Mal ihren eigenen Fahrplan einhielt.
    Der Wagen hatte die Abzweigung zur Hauptstraße erreicht, die keinen Deut besser, aber wenigstens etwas breiter war als der schmale Weg, der nach Walnut Falls hinunterführte, und der Kutscher ließ seine Peitsche knallen, um die Pferde zu größerer Schnelligkeit anzutreiben. Der Wagen begann zu schaukeln wie ein Schiff in bewegter See, und die ungefederten Achsen gaben die Stöße mit brutaler Direktheit an den Aufbau weiter. Andaras Blick richtete sich auf das Fenster. Durch den zerschlissenen Vorhang fiel Sonnenlicht in dünnen gelbweißen Bahnen. Staub tanzte darin wie ein Schwarm regenbogenfarbiger Zwergkäfer, und durch ein etwas größeres Loch in dem Stoff konnte er die monotone Landschaft Colorados vorüberhuschen sehen: braunverbranntes Gras und sanft gewellte Weite, die mit einem Himmel verschmolz, der sich in loderndem Blau selbst zu verzehren schien.
    Als er sich wieder zurücksinken ließ, fiel sein Blick auf etwas Weißes, das auf der gegenüberliegenden Bank lag. Ein scharfer, sehr schmerzhafter Stich schoss durch seine Brust, als er erkannte, was es war. Andaras Hand zitterte, als er sich vorbeugte und das spitzenbesetzte weiße Tuch aufhob. In der oberen rechten Ecke waren die Buchstaben R. A. eingestickt.
    Roberts Taschentuch. Jenny hatte es gemacht, noch bevor er auf die Welt gekommen war, und es war alles, was ihnen beiden von ihr geblieben war. Jenny … Gott, war es denn nicht schlimm genug, dass er sie hatte verlieren müssen?
    Andara lehnte sich zurück und schloss die Augen. Der bittere Geschmack
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