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Auf der Spur des Hexers

Auf der Spur des Hexers

Titel: Auf der Spur des Hexers
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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erkannte deutlich die Furcht darin.
    »Verzweifele nicht, Kind«, sagte sie mit einer Sanftheit, die keiner der anderen ihr zugetraut hätte. »Vielleicht werden wir sterben, aber der Tod ist nicht das, wofür ihn die meisten halten.« Sie lächelte geheimnisvoll. »Fahre fort.«
    Das Mädchen gehorchte. Ihre Augen blieben weiter geöffnet. Aber ihr Blick wurde wieder leer, und ihre Hände, die bisher nervös an den Zipfeln ihres einfachen braunen Kattunkleides gespielt hatten, waren mit einem Male ganz ruhig.
    Von draußen drangen gedämpfte Stimmen in den Raum, dann das Trappeln von Schritten, Türenschlagen und Hundegebell. Ein Pferd wieherte, dann knallte eine Peitsche, und eine zornige Stimme begann zu fluchen.
    Aber Lyssa schien von alledem nichts zu bemerken. Starr und wie gelähmt hockte sie auf ihrem Schemel, ohne die geringste Bewegung, ohne mit den Lidern zu zucken, ja, selbst ohne zu atmen.
    »Spürst du ihn?«, fragte Andara nach einer Weile. »Spürst du seine Nähe? Hört er unseren Ruf?«
    Lyssa nickte. Ihr Blick flackerte, wurde für eine halbe Sekunde klar und verschleierte sich sofort wieder. Auf ihrer Stirn lag kalter, klebriger Schweiß.
    »Ich fühle ihn«, flüsterte sie. »Er … hat deinen Ruf gehört. Er … wird … ihm folgen.« Sie schluckte. Ihre Stimme wurde brüchig und klang plötzlich wie die einer alten Frau. »Yog –«
    »Sprich diesen Namen nicht aus!« Andara hob erschrocken die Hand und berührte die des Mädchens. Die Stimmen, die durch die geschlossenen Läden in den Raum drangen, wurden lauter, und plötzlich zerriss der peitschende Knall eines Schusses die Stille. Ein gellender Schrei antwortete wie ein bizarres Echo darauf.
    »Sprich ihn nicht aus«, sagte Andara noch einmal, fast, als ginge sie alles, was sich außerhalb des kleinen Raumes abzuspielen begann, nichts an. »Es ist den Sterblichen verboten, seinen Namen zu benutzen. Es reicht, wenn er weiß, dass wir ihn rufen.«
    »Er weiß es«, antwortete Lyssa mühsam. »Und er … er kommt. Ich spüre es.«
    Andara antwortete nicht mehr. Ihr Gesicht war wieder zu einer Maske der Unberührbarkeit und des Alters erstarrt, und ihre Hände, die nebeneinander auf der Tischplatte lagen, als warteten sie nur darauf, zum Gebet gefaltet zu werden, sahen mehr denn je aus wie die einer Toten.
    »Sie kommen.«
    Quenton fuhr beim Klang der beiden Worte zusammen wie unter einem Hieb. Sein Blick irrte nervös durch die Scheune. Das geschlossene Tor und die hastig vernagelten Fenster sperrten das Tageslicht aus und ließen die Gestalten der anderen zu unsicheren Schatten werden, ihre Bewegungen zu einem ruckhaften, geisterhaften Huschen. Es war still; viel ruhiger, als es in einem Raum sein durfte, in dem sich annähernd dreißig Personen aufhielten. Aber es war die Stille der Angst, die von den Menschen hier Besitz ergriffen hatte.
    Leise – als fürchte er, allein durch ein zu lautes Geräusch den Mob draußen zu einem Angriff zu provozieren – erhob er sich, lehnte das entsicherte Gewehr gegen die Wand und trat vom Fenster zurück. Sofort huschte einer der anderen Männer herbei, nahm seinen Platz ein und schob den Lauf seines Gewehres durch eine der schmalen Schießscharten, die sie freigelassen hatten. Sie alle waren bewaffnet: mit Gewehren, Revolvern und Schrotflinten, einige auch nur mit Äxten, Mistgabeln oder großen Messern; selbst die Frauen, die sich in den hinteren Teil der Scheune zurückgezogen hatten und einen lebenden Schutzwall um das halbe Dutzend Kinder bildeten. Die unscheinbare Scheune hatte sich im Laufe der letzten zwanzig Minuten in eine Festung verwandelt. Wer immer sie stürmen wollte, würde einen hohen Blutzoll zahlen müssen.
    Und trotzdem würden sie sterben. Quenton wusste es. Es war nicht einmal die Macht, die ihm dies verriet, sondern simples Kopfrechnen. Sie waren achtundzwanzig, die sechs Kinder und elf Frauen mitgezählt, und sie waren einfache Bauern und Jäger und hatten Angst, und dort draußen tobte ein aufgepeitschter Mob durch die Straßen, der nach Hunderten zählte und Blut sehen wollte.
    »Quenton?«
    Quenton sah auf und erkannte das blasse Gesicht Marians, der Tochter seines Stiefbruders. Das Schrotgewehr in ihren schmalen Händen wirkte beinahe rührend. »Ja?«
    »Wieso … bist du hier?«, fragte sie leise. Ihre Lippen zitterten, und obwohl sie fast flüsterte, spürte Quenton, dass jedermann in der Scheune ihren Worten aufmerksam lauschte.
    Und dass sie auf eine Antwort warteten.
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