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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht
Autoren: Hellmuth Karasek
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wie sie mir später mit leichter Verbitterung erzählte. Mein Vater arbeitete in einem Sportgeschäft bei Balony-Baumann, nachts spannte er Tennisschläger, um sich etwas zusätzlich zu verdienen. Sein jüngster Bruder, Kurt, damals zweiundzwanzig Jahre alt, lebte noch von den Eltern und spielte am Nachmittag, während meine Mutter bei seiner Mutter sauber machte, Tennis. Einmal schaute ich ihm zu, es sah schön aus, nach Luxus, Luft, Licht, moderner Zeit. Er spielte mit einem Mädchen, vielleicht einer Freundin, vielleicht einer Verlobten, die sich nach dem Spiel in ihrem weißen Rock und der weißen Bluse erhitzt zu mir herabbeugte und mir einen Kuss gab.
    Das war wunderschön. Und wenn ich es recht erkenne, hat dieses Bild mich als Wunsch vom Leben und Anspruch an das Leben ebenso wenig verlassen wie die Bilder der Operettenbesuche mit meiner schönen Mutter oder die Sonntagvormittage, wo ich manchmal einem jungen Sänger sehnsuchtsvoll zuhörte, während er sang: »Dein Kuss war ein Traum von Sekunden / Denn plötzlich warst du verschwunden / Wo magst du nur geblieben sein?«
     
    Mit einem Fotoalbum, das mir meine Eltern T979 zu Weihnachten schenkten, erinnerten sie sich und ihre Kinder voll Stolz und Wehmut an Großvater und Großmutter, an Alfred Karasek und Marie Karasek, geborene Langer, die von allen nur »Mitzie« genannt wurde und von ihrem Mann später mit derbliebenswürdigem Spott »Bierwurst-Mitzie«, weil sie sich jeden Abend Bier und Wurst für eine kräftige Jause bringen ließ.
    Eines der ersten Bilder zeigt den Großvater als schlanken jungen Mann auf einem Rodelschlitten, und mein Vater hat in der Unterschrift stolz vermerkt: »Vater war begeisterter Wintersportler und einer der allerersten Skifahrer in den Beskiden.« Ein Bild vom 14. 7. 1915 zeigt die Kinder »Fredi, Lotte und Walter«, die zu »Mamas Geburtstag um 6 Uhr fotografiert« wurden, »als Geschenk«.
    Nach dem Krieg 1919, der Großvater ist inzwischen Kriegsinvalide, macht er sich als Baumeister und Bauunternehmer selbständig. Er baut sich ein jugendstil-bestimmtes zweistöckiges Familienhaus (allerdings ohne Ornamente) mit einem schönen holzüberdachten Balkon. In einem zweiten Haus ist seine Baufirma untergebracht. In der Bildunterschrift vermerkt mein Vater stolz, dass im zweiten Stock jedes der vier Kinder (Bruder Kurt wurde Anfang 1914 geboren) »sein eigenes Zimmer hatte«.
    Von seinen drei Söhnen und seiner Tochter wurde der Vater bewundert, ja verklärend verehrt, wohl aus dem Gefühl, dass sie ihm nicht gleichkamen, ja nicht einmal nacheifern konnten. Erklärt das zum Teil, dass sie bei den Nazis nach dem pompösen Flitter und Lametta der Uniformen und Ämter strebten? Vielleicht zum Teil.
    Die Söhne erzählten seltsame Geschichten von ihm, wie er beispielsweise im Sommer als Freiluft-Enthusiast die Familie auf dem Balkon habe schlafen lassen und alle eingeregnet seien. Wie er Kindern auf der Straße, wenn sie zu lange Haare hatten, Geld gab und sie zum Friseur schickte.
    Mein Vater verübelte ihm, dass er ihn als einzigen nicht hatte studieren lassen. Mein Vater wurde Tischler; er sollte wohl das Baugeschäft in der Wenzelisgasse in Biala übernehmen. Als Skifahrer übertraf er die Erwartungen und Hoffnungen seines Vaters, er nahm an großen Skirennen erfolgreich als Langläufer teil. Der älteste Bruder meines Vaters, Fredi, studierte in Wien Volkskunde, sein Professor war der bekannte rechtslastige Kunsthistoriker Hofrat Strzygowski, mit dessen junger Frau (einer Bielitzer Cousine des greisen Gelehrten) mein Onkel ein Verhältnis hatte und die er nach dem Tod des Hofrats heiratete (»Muss ich sie jetzt heiraten?«, soll er angeblich meine Mutter gefragt haben). Während der folgenden Zeit malte sie Donauschwaben, Siebenbürger Sachsen, Deutsche aus dem Banat und den Beskiden in ihren alten Heimattrachten vor dem Hintergrund blaustichiger, schneebedeckter Berge und war eine anerkannte Künstlerin mit ihren Bildern buntgewandeter »Volksdeutscher«.
    Der Onkel reiste als Volkskundler in Waffen-SS-Uniform durch die besetzten Gebiete. Zu seinem Glück war er nicht damit beschäftigt, »Untermenschen« wie Juden und Slawen zu registrieren, sondern er kümmerte sich um die Volksdeutschen, die er zählte und umsiedeln half.
    Nach dem Krieg legte er unter der Schirmherrschaft des wegen seiner Nazi-Vergangenheit übel beleumdeten Vertriebenenministers Oberländer nach Befragungen von Heimatvertriebenen ein Archiv über ihre
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