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Auf dem spanischen Jakobsweg

Auf dem spanischen Jakobsweg

Titel: Auf dem spanischen Jakobsweg
Autoren: Wolfgang Dannhäuser
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zum letzten Mal hier. Es ist Zeit zu gehen, denn wir
sehen jetzt zunehmend Pilger, die wir schon nicht mehr vom Camino her kennen,
die später aufgebrochen sind als wir. Viele, mit denen wir gewandert sind, über
Berg und Tal, durch Hitze, Regen und Wind, sind schon nicht mehr hier. Zeit zu gehen
also, den Nachkommenden Platz zu machen, in den Pensionen, in der Casa Manolo,
in den Strafiencafés unter den Arkaden.
    Wir kommen
am späten Nachmittag an der Kathedrale vorbei, gehen hinein, wollen uns noch
einmal in eine Bank setzen, ein bisschen ausruhen. Da stößt mir Heinz plötzlich
mit dem Ellenbogen in die Seite und wippt mit seinem Kinn in das linke
Längsschiff hinüber. Dort geht ein großer, schwerer Mann mit dem Rucksack auf
dem Rücken und dem Pilgerstock in der Hand langsam nach vorne. Kein Zweifel,
das ist der „Dicke“ vom Pilgerbrunnen in Saint-Jean-Pied-de-Port, der erste
Pilger, den wir auf dem Camino trafen — und nun wohl auch der letzte, dem wir
auf unserer Reise begegnen. Er erkennt uns sofort wieder, wie wir vor ihm
stehen und er weiß auch noch, wo wir uns getroffen hatten, ganz am Anfang, am
Ausgangstor unserer Pilgerschaft. Vor Freude erdrückt uns fast der große,
starke Kerl aus Hessen.
    Wir gehen
danach in die kleine Pension in der Fonseca-Straße, begleichen bei Señora Vilar
unsere Schulden, bedanken uns, schreiben ihr etwas ins Gästebuch, umarmen sie
und packen dann unsere Sachen zusammen. Schließlich sitzen wir, wie so oft in
den vergangenen Wochen, noch einmal auf unseren Betten mit Weißbrot, Schinken
und Salami und einer Flasche Rotwein.
    Aber ich
will noch einmal hinunter in die Gassen, hinüber in die große Kathedrale,
allein, ohne meine Gefährten.
    Es ist schon
Abend geworden und nur weit im Westen, über dem Atlantik, liegt noch ein helles
Schwefelband.
    Ich lasse
mich noch einmal durch die alten Gassen treiben, mehr von meinen Gefühlen denn
aus Neugierde, denn diese Stadt ist mir in wenigen Tagen so vertraut geworden,
dass ich sie mir eratmen kann, meine Augen nicht mehr brauche.
    Hier also
sind seit tausend Jahren aus ganz Europa Sehnsucht und Hoffnung
zusammengeflossen, hier und auf dem Weg hierher ist unsere abendländische Seele
gebündelt, gebrochen und auch wieder reflektiert worden wie das Licht, das auf
einen Bergkristall trifft. Dieses Licht und dieser Kristall sind in ewiger Bewegung,
werfen die Lichtreflexe immer wieder in verschiedene Richtungen. So bleiben
auch dieser Weg und sein Ziel und die Empfindungen, die er auslöst, in
ständiger Bewegung.
    Gleichgültig
aber lässt dieser Weg niemanden, der eine Seele hat. Verändert er auch mich,
hat er mich schon verändert? Ich weiß es nicht. Mein Körper ist zwar hier
angekommen, aber meine Seele wird noch lange unterwegs sein. Erfahren habe ich
dennoch schon, dass viele Zwänge, in die wir eingekerkert sind, in die wir uns
haben einkerkern lassen, unwichtig, ohne wirkliche Bedeutung sind. Aber auch
ich werde diesen Zwängen nicht entkommen, mich nicht aus diesen Ketten ganz
befreien können. Sicher bin ich aber auch, dass ich jetzt besser werde
unterscheiden können, was wichtig und was weniger wichtig und was ganz
unwichtig ist. Diese Kraft wird eine Quelle meiner inneren Ruhe sein, wird mich
erfrischen wie das klare Wasser aus den Brunnen am Weg, wie die Geborgenheit,
die ich in den einfachen Herbergen, in der Gemeinschaft mit so vielen Menschen
aus so vielen Ländern und Kulturen erfahren habe. Ja, dieser einsame Weg war
ein großes, war ein großartiges, ein nachhaltiges Erlebnis, war vor allem ein
Weg zu mir selbst.
    Im
abendlichen Dämmerlicht der großen Kathedrale knien nur noch wenige Menschen,
vertieft in ihr Gebet. Ich beneide sie um ihre Fähigkeit zur Hingabe.
    Bin auch ich
Gott näher gekommen?
    Ich habe
kein Erweckungserlebnis erwartet. Ich bin kein frommer Mensch, ich bin ein Kind
der Aufklärung. So werde auch ich vom klaren, aber auch gleißenden Licht der
Aufklärung geblendet, kann nicht erkennen, was jenseits dieses Lichts, in der
scheinbaren Dunkelheit, sein könnte. Gilt auch für mich nur der Satz, den ich
in diesen Tagen, hier in Santiago, gelesen habe, gilt ausschließlich das
„memento ho-mo qui a pulvis es et in pulverem reverteris“, dass ich aus Staub
bin und zu Staub zurückkehren werde?
    In uns
allen, in allen Menschen, gibt es tief im Innern eine Stimme, die über den
Staub hinauszeigen will. Diese Stimme ist auf diesem einsamen Weg vernehmbarer
geworden, hat meine Zweifel
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