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Auch Pünktlichkeit kann töten: Crime Stories

Auch Pünktlichkeit kann töten: Crime Stories

Titel: Auch Pünktlichkeit kann töten: Crime Stories
Autoren: Agatha Christie
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zwei Minuten nach acht. Die Lokomotive stieß einen Pfiff aus, und der Northern Express fuhr wieder an. Ein hochgewachsener Chauffeur in dunkelgrüner Uniform näherte sich Poirot.
    »Mr. Poirot? Nach Hamborough Close? «
    Er griff nach der hübschen Reisetasche des Kriminalisten und begleitete Poirot zum Ausgang. Vor dem Bahnhof stand ein großer Rolls-Royce. Der Chauffeur hielt Poirot den Schlag auf, so daß er einsteigen konnte, und legte ihm eine riesige Pelzdecke über die Beine. Dann fuhren sie los. Nach etwa zehnminütiger Fahrt über Land, durch scharfe Kurven und über Landstraßen bog der Wagen durch ein breites Tor, das von riesigen steinernen Jagdhunden flankiert war.
    Sie fuhren durch den Park und vor dem Haus vor. Als sie hielten, wurde die Haustür geöffnet, und ein Butler von imposanter Gestalt trat auf die Treppe hinaus.
    »Mr. Poirot? Wenn Sie mir bitte folgen wollen.«
    Er führte den Kriminalisten durch die Halle und öffnete dann an der rechten Seite eine Tür.
    »Mr. Hercule Poirot«, meldete er.
    In dem Zimmer befand sich eine Reihe von Leuten in Abendkleidung, und als Poirot das Zimmer betrat, nahmen seine schnellen Augen sofort wahr, daß man ihn nicht erwartet hatte. Die Blicke der Anwesenden ruhten in unverhüllter Überraschung auf ihm.
    Dann kam eine hochgewachsene Frau, deren dunkles Haar von weißen Strähnen durchzogen war, unentschlossen auf ihn zu.
    Poirot beugte sich über ihre Hand.
    »Ich bitte um Entschuldigung, Madame«, sagte er. »Ich fürchte, mein Zug hatte Verspätung.«
    »Aber ich bitte Sie«, sagte Lady Chevenix-Gore unsicher. Ihre Augen starrten ihn immer noch leicht verwirrt an. »Aber ich bitte Sie, Mr. – äh – ich habe leider Ihren…«
    »Hercule Poirot.«
    Irgendwie hörte er, daß hinter ihm irgend jemand plötzlich tief einatmete. Im gleichen Augenblick merkte er, daß sein Gastgeber sich nicht in diesem Zimmer befinden konnte. Höflich murmelte er: »Sie wußten, daß ich kam, Madame?«
    »Ich – äh, ja…« Ihre ganze Art war keineswegs überzeugend. »Ich glaube – ich meine, ich habe es wahrscheinlich gewußt, aber ich bin so schrecklich unpraktisch, Monsieur Poirot. Ich vergesse immer alles.« Ihr Tonfall verriet ein melancholisches Vergnügen an dieser Tatsache. »Man sagt mir etwas. Scheinbar nehme ich es in mich auf – aber dann ist es doch nur zum einen Ohr hinein und zum anderen wieder hinaus gegangen! Einfach weg ist es! Als wäre nie etwas gewesen.«
    Und dann blickte sie sich in der Art, als erfüllte sie eine schon lange überfällige Pflicht, unsicher um und murmelte: »Sicherlich kennen Sie die übrigen schon.«
    Obgleich dies offenkundig nicht der Fall war, wollte Lady Chevenix-Gore sich mit dieser abgedroschenen Redensart ganz deutlich die Mühe des Vorstellens und die Anstrengung ersparen, sich an die richtigen Namen der verschiedenen Anwesenden erinnern zu müssen.
    Um den Schwierigkeiten dieses besonderen Falles zu entsprechen, fügte sie noch unter Anspannung aller Energien hinzu:
    »Meine Tochter Ruth.«
    Das Mädchen, das vor ihm stand, war ebenso hochgewachsen und dunkel, davon abgesehen jedoch ein ganz anderer Typ. Anstelle der verschwommenen, unbestimmbaren Gesichtszüge der Lady Chevenix-Gore hatte sie eine feingeformte, leicht gebogene Nase und eine klare, sehr betonte Kinnpartie. Das schwarze Haar war zurückgekämmt und endete in einem Gewirr kleiner dichter Locken. Die Farbe ihres Gesichts war gesund und strahlend, obgleich sie kaum geschminkt war. In den Augen Hercule Poirots gehörte sie zu den bezauberndsten Mädchen, die er jemals gesehen hatte.
    Außerdem fiel ihm auf, daß sie nicht nur schön, sondern auch gescheit war sowie ein gewisses Maß an Stolz und Temperament besaß. Wenn sie sprach, klang ihre Stimme leicht gedehnt, und er hatte den Eindruck, daß es ganz bewußt geschah.
    »Wie aufregend«, sagte sie, »Monsieur Poirot als Gast hier zu haben! Der Alte hat sich damit wahrscheinlich eine Überraschung für uns ausgedacht.«
    »Sie wußten also nicht, daß ich kam, Mademoiselle?« fiel er ein.
    »Keine Ahnung hatte ich. Aber mein Autogrammheft kann ich erst nachher herunterholen.«
    Der Klang eines Gongs drang aus der Halle herüber; dann öffnete der Butler die Tür und meldete: »Es ist serviert.«
    Und noch ehe er das letzte Wort ausgesprochen hatte, passierte etwas sehr Merkwürdiges. Die priesterliche Erscheinung des Bediensteten wurde, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick, zu einem höchst
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