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Asperger - Leben in zwei Welten

Asperger - Leben in zwei Welten

Titel: Asperger - Leben in zwei Welten
Autoren: Christine Preißmann
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Im Rahmen einer längerfristigen Therapie können Verbesserungen erreicht werden, aber auch hier bleibt in der Regel das Handicap bestehen. Ich selbst mache seit fünfzehn Jahren eine ambulante Psychotherapie, in der ich vieles gelernt habe. Aber auch heute noch kann ich manche Gefühlsqualitäten kaum und andere nur dann wahrnehmen, wenn sie ganz eindeutig sind. Problematisch sind für mich vor allem Empfindungen wie Ärger und Wut. Und noch viel schwerer und mühsamer ist es für mich, auf die Gefühle anderer Menschen adäquat zu reagieren.
    Mehrere Studien zeigten mittels funktioneller Bildgebung, dass Personen mit Autismus signifikant weniger Aktivierung in einem spezifischen Bereich des Gehirnsaufweisen als andere Menschen, während sie Aufgaben zum mentalen Zustand einer anderen Person lösen sollen. Man geht seither von einer frühen Fehlentwicklung dieses Hirnareals, das an der Verarbeitung emotionaler Prozesse beteiligt ist, bei Menschen mit Autismus aus.
Schwache zentrale Kohärenz
    Nach Ansicht von Wissenschaftlern sind Wahrnehmung und Denken bei nicht autistischen Menschen durch eine zentrale Kohärenz geprägt; das bedeutet, dass sie Reize stets in ihrem Bezugssystem zu anderen Reizen und Informationen sehen. Menschen, Objekte und Situationen werden dadurch kontextgebunden wahrgenommen. Bei autistischen Menschen aber ist die zentrale Kohärenz in der Regel nur schwach ausgeprägt. Sie beachten also weniger die Beziehungen und Zusammenhänge von Gegenständen, sondern richten ihre Wahrnehmung auf einzelne und isolierte Details. Beispielsweise kann es vorkommen, dass sie einen unbekannten Text zwar schnell lesen und perfekt auf Fehler prüfen können, aber erhebliche Probleme haben, den Inhalt zu begreifen.
    Durch die Schwierigkeiten der Betroffenen, sich einen Überblick über ein komplexes Ganzes zu verschaffen, lassen sich auch das Ablehnen von Variationen und der Wunsch nach Gleichförmigkeit erklären. Die meisten Menschen mit Autismus haben große Probleme mit Veränderungen aller Art. Da es ihnen an flexiblem Denken mangelt, fällt es ihnen sehr schwer, sich alternative Problemlösestrategien zu überlegen und aus ihren Fehlern zu lernen.
    Die schwache zentrale Kohärenz könnte man aber auch als einen eigenen Stil der Informationsverarbeitung bezeichnen, der auch Vorteile hat gegenüber der Informationsverarbeitung anderer Menschen. Erst durch ihre Konzentration auf Details sind wohl die außergewöhnlichen Leistungen mancher Autisten möglich, denn aufgrund ihrer speziellen Wahrnehmung nehmen sie manchmal auch solche Einzelheiten wahr, die anderen Menschen gar nicht auffallen. Beispiele dafür beschreibt Simone Pinke in ihrem Text (siehe →  S. 106 ). Sie durfte die Erfahrung machen, dass ihre Detailwahrnehmung sowohl beim Einkaufen als auch bei Wohnungsbesichtigungen eine große Hilfe darstellte. Auch bei einigen anderen Aufgaben wie dem Auswendiglernen von Fakten kann die schwache zentrale Kohärenz hilfreich sein, bei der Interpretation von sozialen und anderen Situationen stellt sie jedoch ein schweres Handicap dar, denn dafür ist eine ganzheitliche, kontextgebundene Wahrnehmung notwendig. So besteht für kohärenzschwache Menschen »ein Bericht oder ein Text nicht aus zusammenhängenden Gedanken, sondern aus einer Ansammlung von Einzelinformationen (…). Das Gleiche gilt für Geschichten« (Schuster 2007, 174). Viele Betroffene können daher Geschichten nicht verstehen. Sie erkennen oft weder einen sinnvollen Handlungsablauf, noch beherrschen sie das sogenannte »Zwischenden-Zeilen-Lesen«. Es gelingt ihnen nicht, zwischen wichtigen und wenigerrelevanten Informationen zu unterscheiden. Nach einem Gespräch werden sie sich möglicherweise zunächst an das Muster des Teppichs erinnern und nicht in erster Linie an die anwesenden Personen. Diese Schwierigkeiten machen sich in der Schule häufig u. a. im Fach Deutsch oder in den Fremdsprachen bemerkbar.
    Aufgrund ihrer schwachen zentralen Kohärenz nehmen autistische Menschen außerdem ähnliche Situationen oft sehr unterschiedlich wahr, denn erst eine ganzheitliche Wahrnehmung führt dazu, dass Situationen als ähnlich oder gleich eingeschätzt werden können. Daher bleibt erlerntes Verhalten oft auf die spezifische Situation, in der es gelernt wurde, begrenzt. Es ist also notwendig, Verhaltensänderungen in
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