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Arztgeschichten

Arztgeschichten

Titel: Arztgeschichten
Autoren: Michail Bulgakow
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küßte.
    Sodann band sie, an den Krücken hängend, ein Bündel auf, und heraus fiel ein langes schneeweißes Handtuch mit einem kunstlos eingestickten roten Hahn. Dies also hatte sie bei den Visiten unterm Kissen versteckt. Richtig, ich erinnere mich, auf dem Nachttisch lagen Fäden.
    »Ich nehm’s nicht«, sagte ich rauh und schüttelte sogar den Kopf. Aber sie machte ein Gesicht und bekam solche Augen, daß ich es doch nahm.
    Viele Jahre lang hing es in meinem Schlafzimmer in Murjewo und ging dann mit mir auf Reisen. Zuletzt wurde es mürb, verwetzt und löchrig und verschwand, so wie auch Erinnerungen mürb werden und verschwinden.
     
    1926

Die stählerne Kehle
    Nun war ich also allein. Rings um mich Novemberfinsternis mit stöberndem Schnee, das Haus verweht, in den Schornsteinen heulte es. Die vierundzwanzig Jahre meines Lebens hatte ich in einer riesigen Stadt verbracht, und ich hatte geglaubt, der Schneesturm heule nur in Romanen. Jetzt stellte sich heraus, er heulte tatsächlich. Die Abende hier waren ungewöhnlich lang, die Lampe mit dem blauen Schirm spiegelte sich im schwarzen Fenster, und ich starrte träumend auf den Lichtfleck zu meiner Linken. Ich träumte von der Kreisstadt, vierzig Werst von mir entfernt gelegen. Am liebsten wäre ich von meinem Revier dorthin geflüchtet. Dort gab es Elektrizität, dort waren vier Ärzte, mit denen man sich beraten konnte, auf jeden Fall war es nicht so beängstigend. Aber die Flucht war ganz unmöglich, und zuzeiten begriff ich selber, daß dies Kleinmut war. Weshalb hatte ich denn an der medizinischen Fakultät studiert?
    Nun, und wenn eine Frau mit einer komplizierten Entbindung gebracht wird? Oder vielleicht ein Patient mit einem eingeklemmten Bruch? Was mache ich dann? So ratet mir doch, bitte schön. Vor achtundvierzig Tagen habe ich das Studium mit Auszeichnung beendet, aber die Auszeichnung ist eines, ein Bruch aber etwas anderes. Ein einziges Mal habe ich gesehen, wie der Professor einen eingeklemmten Bruch operierte. Er machte die Operation, ich saß im Hörsaal. Das ist alles …
    Der Gedanke an den Bruch jagte mir mehr als einmal kalten Schweiß die Wirbelsäule hinunter. Allabendlich, wenn ich mich an Tee satt getrunken hatte, saß ich in derselben Pose da: links von mir alle möglichen Nachschlagewerke über operative Geburtshilfe, obenauf der kleine Döderlein. Rechts von mir ein Dutzend Bände über Operationschirurgie mit Zeichnungen. Ich krächzte, rauchte, trank kalten schwarzen Tee.

    Dann schlief ich ein. Ganz deutlich erinnere ich mich an diese Nacht des 29. November. Ich erwachte von einem Gepolter an der Tür. Fünf Minuten später zog ich mir die Hose an und ließ dabei den flehenden Blick nicht von den göttlichen Büchern über Operationschirurgie. Vom Hof her hörte ich Schlittenkufen knirschen, meine Ohren waren hellhörig wie nie. Jetzt kam es wohl noch viel schlimmer, als ein Bruch es wäre, schlimmer als eine Querlage: Man brachte mir um elf Uhr nachts ein kleines Mädchen ins Krankenhaus Nikolskaja. Die Nachtschwester sagte dumpf:
    »Das Kind ist schwach, wird wohl sterben. Kommen Sie ins Krankenhaus, Doktor.«
    Ich weiß noch, wie ich den Hof überquerte, auf die Petroleumlaterne am Krankenhauseingang zuging und sie wie verzaubert zwinkern sah. Im Sprechzimmer war Licht, und alle meine Helfer erwarteten mich angekleidet und im Kittel. Es waren: der Feldscher Demjan Lukitsch, ein noch junger, doch sehr fähiger Mann, und die beiden erfahrenen Geburtshelferinnen Anna Nikolajewna und Pelageja Iwanowna. Ich selbst war erst vierundzwanzig. Vor zwei Monaten von der Universität entlassen und dazu bestimmt, das Krankenhaus Nikolskaja zu leiten.
    Der Feldscher öffnete gewichtig die Tür, und die Mutter erschien. Gleitend kam sie in ihren Filzstiefeln herein, und der Schnee auf ihrem Tuch war noch nicht geschmolzen. In den Händen hielt sie ein Bündel, das gleichmäßig pfiff und zischte. Das Gesicht der Mutter war verzerrt, sie weinte lautlos. Nachdem sie Pelz und Tuch abgelegt und das Bündel aufgewickelt hatte, sah ich ein etwa dreijähriges Mädchen. Ich betrachtete es und vergaß zeitweilig die Operationschirurgie, die Einsamkeit, meinen untauglichen Uniballast, vergaß entschieden alles, so schön war das Mädchen. Womit könnte ich es vergleichen? Nur auf Konfektschachteln malt man solche Kindergesichter mit Naturlocken wie reife Roggenähren. Die Augen blau, riesengroß, die Wangen puppenhaft. Engel werden so gemalt.
Nur
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