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Arminius

Arminius

Titel: Arminius
Autoren: Sebastian Fleming
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leben. Es ist ihm nicht möglich. Und der, der wagt, ihn zu entehren, den muss er zu den Totengöttern schicken, wenn er weiter atmen möchte.«
    »Aber sie hatten keine Augen …«, stotterte das Kind.
    »Sie haben auch vorher nichts wahrgenommen. Wir haben sie Tyr geopfert.«
    »Sie hingen an Kreuzen …«
    »Das haben uns die Römer gelehrt. So töten sie diejenigen, die sich gegen ihre Anmaßung erheben. Wir haben den von ihnen erfundenen Tod nur gegen sie gerichtet.«
    Wie gern wäre Ergimer mit den Wölfen gezogen. Er fühlte panische Angst vor der Rückkehr nach Hause. Segimer wollte seinen Sohn aufheben, doch der brüllte und wehrte sich nach Kräften, als ob sein Vater ihn als Nächsten erschlagen wollte.
    »Aber ich bin doch kein Römer«, schrie der Junge verzweifelt.
    Ingoumer legte dem Fürsten die Hand auf die Schulter: »Lass, er fiebert.« Dann bettete er seinen verängstigten Neffen sanft in seine großen und starken Armen und sprach beruhigend auf ihn ein. Ergimer ließ es ermattet zu, denn Ingoumer war sein Lieblingsonkel.
    Er setzte den Jungen vor sich auf das Pferd. Mit einem tiefen Seufzen schmiegte sich das erschöpfte Kind an ihn und schlief sofort ein. Als sie im Morgengrauen endlich ihre Siedlung erreichten, nahm Lanina, Ergimers Mutter, den Jungen aus den Händen ihres Bruders entgegen. Ergimer wurde nicht wach, als sie ihn wusch, und auch nicht, als sie ihn küsste, in Decken wickelte und schlafen legte. Erst Stunden später schlug er die Augen auf. Lanina, die bei ihrem Sohn gewacht hatte, flößte ihm eine kräftige Rinderbrühe mit Eierstich ein. Dann schloss Ergimer wieder die Augen.
    In der darauffolgenden Nacht bekam der Knabe Fieber. Er verweigerte jede Nahrung und nahm auch nichts Flüssiges mehr zu sich. Mit geöffneten oder mit geschlossenen Augen – es machte keinen Unterschied – erzählte er gehetzt vom Leichenfeld. Dann schrie er wieder aus Leibeskräften, als verfolgten ihn die gekreuzigten Römer. Manchmal zwangen ihn die Toten auch, dass er ihnen in die schwarzen Augenhöhlen sah.
    Außer sich vor Angst, dass Walachurrâ seinen Sohn durch die Gärten des Wahns zu sich holte, sprang Segimer auf sein Pferd und ritt schnell wie der Wind, um Nehalenia zu holen, die in der Nähe des heiligen Hains lebte. Die weise Frau entsprach der Bitte des Fürsten und begleitete ihn zu seinem Anwesen. Dort besah sie den Jungen, der wieder in eine Ohnmacht gesunken war. Schweiß schimmerte auf seiner Stirn.
    »Wir müssen uns beeilen. Walachurrâ hat seinen inneren Menschen schon an die Hand genommen, um ihn in die Welt nach Tyrwal zu führen.«
    Tyrwal war die eigentliche Welt, diejenige, in die alle Cherusker nach ihrem Tod eingingen, und ihre eigentliche Heimat fanden sie am Ort ihrer Ahnen. Sie lebten in einer Vorwelt, die zwar zur Welt gehörte, aber wie ein Zimmer nur ein Teil des Gesamten darstellte. Heilige Haine boten Durchgänge, die Türen zur Allheit, in der die Ahnen und Götter, die Geister und die Seelen der Tiere lebten. Als Ahnenland aber galt ihnen das Hirschland. Und so nannten sie sich auch: Cherusker, Hirschleute.
    »Wenn ich ihn retten soll, muss ich mit ihm ins Hirschland«, sagte Nehalenia mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete.
    »Geh, weise Frau, lass dich nicht aufhalten. Aber komm nicht ohne Ergimer zurück. Es wäre dann besser, auch du bleibst dort«, entgegnete Segimer in seiner Angst um den Sohn. Nehalenia zweifelte nicht daran, dass der Gefolgsherr seine Drohung wahr machen würde.

    Aus den Gerten und dem Laub der Eichen errichtete Nehalenia eine Hütte, die sie mit einem Kreis aus Steinen umgab. Gegenüber dem Eingang ließ sie die Umrandung einstweilen noch offen. Sie lief in den Wald und sammelte Eicheln und Kastanien, Kräuter und Wurzelwerk, dazu den Samen des Stechapfels. Ein Knecht Segimers hatte den großen bronzenen Kessel der Nehalenia geholt, der mit allerlei Bildern verziert war.
    Der Kessel, der im Durchmesser wohl eine Elle maß, erregte die Fantasie der Cherusker. Es hieß, das Gefäß sei mit dem Blut geopferter Menschen geweiht. Niemals und niemandem verriet die weise Frau den Sinn der Bilder rund um den Kesselbauch, denn es handelte sich um einen geheimen Plan der Jenseitsreise, eine versteckte Wegbeschreibung in die Welt, nach Tyrwal.
    Bevor sie Ergimer holte, hatte sie ihm ein Lager aus Blättern, Heu und zerriebenen Pilzen bereitet und Quellwasser in Krügen in die Hütte bringen lassen. Nachdem sie den Jungen, der aus seiner
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