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Antonias Wille

Antonias Wille

Titel: Antonias Wille
Autoren: Petra Durst-Benning
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randvoll mit der Vergangenheit, herumgeschlichen. Hatte hundert Ausreden gefunden, um die modrig riechenden Unterlagen nicht in die Handnehmen zu müssen. Allein beim Gedanken an ihre Mutter in den schwarzen Gewändern und mit der stets düsteren Duldermiene sträubte sich alles in ihr. Mutter hat mich nicht lieb, sie mag mich nicht einmal  – dieses Wissen hatte Antonia ein Kinderleben lang wie einen zu schweren Mantel mit sich herumgeschleppt. Allein beim Anblick der Kiste fühlte sie dessen Gewicht erneut auf ihre Schultern sinken. Hatte sie sich dafür auf den weiten Weg in die Ferne gemacht? Und dennoch: Eines Tages – an einem japanischen Feiertag, die Schule war geschlossen gewesen – hatte sich Antonia dem Unvermeidlichen gestellt.
    Zuerst betrachtete sie die Fotografien. Auf fast allen war dasselbe Motiv zu sehen: zwei junge Frauen, eine schöne und eine hässliche, lachend, Arm in Arm vor dem »Kuckucksnest«, in einer Gruppe anderer Menschen, wahrscheinlich bekannte Persönlichkeiten, die als Gäste im Hotel abgestiegen waren. Bei der Einweihung des Tennisplatzes – die schöne Frau strahlend mit einem Tennisschläger, die hässliche abseits mit Bällen in den Händen, mit einem Blick voller Liebe. So fremd.
    Rosanna und Simone.
    Durch dick und dünn. Wie Schwestern.
    Dann hatte Antonia eins der Tagebücher in die Hand genommen. Hatte angefangen zu lesen und schon nach wenigen Minuten erkannt, dass es sich nicht um die Lebensaufzeichnungen ihrer Mutter handelte, sondern um Rosannas. Sie hatte nicht gewusst, ob sie erleichtert oder enttäuscht sein sollte.
    Plötzlich war es wieder da, das kleine Mädchen von damals, das verbotene Fragen stellte, Simones Blick im Rücken. Die Luft schwanger mit ihren stummen, bitteren Vorwürfen. Welches Recht hatte sie, Antonia, auf Rosannas persönlichste Gedanken?
    Es war nicht der Nachlass ihrer Mutter, also weg mit dem alten Zeug! Der schwere Mantel der Vergangenheit verschwand in der Mottenkiste. Und mit ihm die Tagebücher und alles andere. Antonia versteckte die Kiste im letzten Winkel ihrer kleinenWohnung. Sie wollte die Antworten auf die einstigen Fragen nicht mehr hören. Das kleine Mädchen von früher gab es nicht mehr.
    Schon bald war alles wieder weit weg gewesen, so leicht, so unwesentlich. Zum Glück.
    Antonias Blick hatte sich in die Rückenlehne des Sofas gebohrt. Die Augen schmerzten vor Trockenheit.
    Es waren nicht Skrupel gewesen, die sie davon abhielten, fremde Tagebücher zu lesen. Es hätte einfach zu wehgetan, sich mit der Frau auseinander zu setzen, die der Liebe ihrer Mutter würdig gewesen war. Die von Simone geliebt wurde. Im Gegensatz zu ihr.
    Ihr Leben lang hatte sich Antonia eingeredet, dass sie sich von der Einsamkeit ihrer Kindheit frei gemacht hatte. Ihre Entscheidung, Rombach zu verlassen und im fernen Japan ihrer Arbeit nachzugehen, war dafür doch der beste Beweis, oder nicht?
    Glücklich und zufrieden und frei, ein Leben lang. Antonia lachte bitter auf.
    Und nun sollte Julie, eine Fremde, ihr helfen, den Schmerz der frühen Jahre, der noch immer an ihr nagte, zu besiegen?
    Es gab Momente, in denen selbst Antonias Wille nicht stark genug war. In denen sie sich einfach nur für verrückt erklärte. Andererseits: Was hatte sie zu verlieren?
    Und was hatte sie zu gewinnen?
    Das Gefühl, nicht mit einer unbewältigten Vergangenheit ins Grab zu gehen – das hatte sie zu gewinnen! Aber sollte sie das Jahr, das ihr laut den Ärzten noch blieb, wirklich damit verbringen, ihre komplizierte Vergangenheit aufzudecken? Und womöglich belastende Dinge ans Licht zu befördern, die ihr wehtun, die sie traurig machen würden? Sollte sie die Zeit, die ihr blieb, damit vertun, in dunklen Ecken zu kramen, das Unterste nach oben zu befördern? Nein, diese Kraft brachte sie nicht auf.
    Antonia wandte den Blick durch das Fenster nach draußen.Er verlor sich zwischen den rotwangigen Äpfeln und dem müde gewordenen Laub.
    Julie würde das Richtige tun – daran musste sie einfach glauben!

    Das Erste, was Julie tat, als sie im Auto saß, war, die Freisprechanlage ihres Mobiltelefons zu aktivieren. So gut wie kein Empfang – na toll! Sie tippte auf eine gespeicherte Nummer und wartete auf eine Verbindung. Hoffentlich ist sie ausnahmsweise einmal zu Hause und hoffentlich kann ich sie verstehen, betete Julie,
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