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Anständig essen

Anständig essen

Titel: Anständig essen
Autoren: Karen Duve
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besitzen.«
    »Gehört nicht auch sexuelle Enthaltsamkeit dazu?«, frage ich.
    Die fünf Gebote der Jains lauten nämlich:
    1. Lebensschonung
    2. Wahrhaftigkeit
    3. Achtung fremden Eigentums
    4. Sexuelle Enthaltsamkeit
    5. Besitzlosigkeit
    Wenn man nicht gerade Mönch oder Nonne ist, werden die Punkte 4 und 5 allerdings großzügig ausgelegt. Man darf zum Beispiel heiraten und Geld verdienen. Eigentlich, so Herr Benadi, sind das auch keine Einschränkungen, sondern Freiheiten.
    »Sexuelle Enthaltsamkeit etwa meint Freiheit von dem inneren Zwang, sein Leben nach sexuellen Bedürfnissen ausrichten zu müssen. Und Besitzlosigkeit heißt nicht, dass man nichts besitzen darf, sondern meint die ›Freiheit von dem inneren Zwang, mehr und mehr materielle Objekte ansammeln oder einen immer höheren Status erreichen zu müssen, und Freiheit von der Illusion, damit Zufriedenheit erlangen zu können‹.«
    »Freiheit von dem Glauben, dass das Wirtschaftswachstum jedes Jahr steigen müsse«, schlage ich vor.
    Herr Benadi nickt.
    Von den indischen Digambara-Mönchen, die nackt umherwandernd die Jain-Lehre verbreiten und nur einmal am Tag so viel essen, wie ihnen jemand freiwillig in ihre hohlen Hände gibt, wird das Gebot der absoluten Besitzlosigkeit allerdings strikt befolgt und als »Quelle für exquisite Glücksgefühle« betrachtet.
    »Aber diese Mönche befinden sich auch auf einer völlig anderen Stufe«, sagt Herr Benadi. Für einen Jain, der in Henstedt-Ulzburg seinen Alltag bewältigen muss, ist es schon nicht ganz einfach, bei der Ernährung auf alle Lebewesen Rücksicht zu nehmen.
    »Hier in Deutschland ist es viel schwieriger als in Indien, weil in Deutschland eigentlich so gut wie alle Lebensmittel mit Gewalt hergestellt werden.«
    Da Schonung sämtlicher Lebensformen aber praktisch sowieso fast unmöglich ist, wird im Jainismus eine stufenweise Verwirklichung der Gewaltlosigkeit empfohlen. Herr Benadi etwa trinkt Milch, weil den Jains das Milchtrinken eigentlich erlaubt ist. Aus seiner Kindheit in einem Jain-Dorf kennt es Herr Benadi noch so, dass das Kalb bei der Kuh stand und erst gemolken wurde, wenn das Kalb bereits getrunken hatte.
    »In Deutschland aber werden die Kälber getötet und auch die Kühe schlecht behandelt. Eine Stufe weiter wäre ich, wenn ich deswegen keine Milch mehr trinken würde.«
    Die Ehrfurcht der Jains vor dem Leben gilt zwar allen Arten, beinhaltet aber ein Ranking. Pflanzen stehen auf der untersten Stufe. Die Gewalt beim Verzehr von Pflanzen ist deswegen erst einmal grundsätzlich am geringsten, es kommt aber auch darauf an, wie man dabei vorgeht.
    Wurzeln und Kartoffeln sind eigentlich verboten, weilman die Erde aufbrechen muss, um sie zu ernten, und dabei nicht nur die Pflanze, sondern auch Mikroorganismen tötet. Trotzdem werden Kartoffeln und Wurzeln von den meisten Jains gegessen. Nur die Strenggläubigen machen das nicht. Auf einer höheren Stufe angesiedelt ist es, Früchte von Bäumen zu pflücken, was bei unreifen Früchten immer noch mit etwas Gewalt verbunden ist. Deswegen ist es die beste, weil völlig gewaltfreie Methode, nur jene Früchte zu nehmen, die vollreif bereits vom Baum heruntergefallen sind. Das wäre dann die höchste Stufe.
    Jetzt weiß ich endlich, woher das Gerücht kommt, Frutarier würden nur die Früchte nehmen, die von selber vom Baum fallen.
    »Aber Fleisch würden Sie doch nicht essen, oder?«, frage ich. Herr Benadi setzt sich sehr gerade hin.
    »Wie können Sie so etwas fragen? Ein Jain isst kein Fleisch. Wenn ich Fleisch essen würde, wäre ich kein Jain.«
    »Wie geht es Ihnen, wenn Sie hier durch einen Supermarkt gehen und all die Körperteile der getöteten Tiere sehen?«
    »Ja, das ist schlimm«, sagt Herr Benadi, »aber ich lebe jetzt auch schon 40 Jahre hier.«
    Ich frage ihn nach Sallekhana, dem religiösen Sich-zu-Tode-Fasten, um Vollkommenheit zu erlangen. Dabei stellt ein Mönch allmählich das Essen und Trinken ein und gibt seine Leidenschaften und Bedürfnisse auf. Er kommt in einen Seelenzustand, in dem er weder an seinem Leben hängt, noch sich nach dem Tod sehnt. Er wischt noch nicht einmal die stechenden und blutsaugenden Insekten von seinem nackten Körper. Auch keine Dasselfliegen.
    »Nein, das wird nicht mehr praktiziert«, wehrt HerrBenadi ab. Es habe sich sowieso nie um Selbstmord gehandelt, sondern wurde nur von sehr alten Mönchen praktiziert, wenn ihnen ihr Körper zu verstehen gegeben hatte, dass die Zeit des Sterbens
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