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Ansichten eines Hausschweins - Neue Geschichten ueber alte Probleme

Ansichten eines Hausschweins - Neue Geschichten ueber alte Probleme

Titel: Ansichten eines Hausschweins - Neue Geschichten ueber alte Probleme
Autoren: Harald Martenstein
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mir nicht klar sei, dass eine ganz normale, nicht supererfolgreiche ältere Frau niemals Chancen auf die Eroberung eines zwanzigjährigen Unterwäschemodels hätte. Jede Frau müsse diese Chance haben! Da fiel mir wieder einmal auf, dass nicht alle Ziele der Frauenbewegung realistisch sind.

Über Charakter
    In der Zeitung stand , dass der von mir sehr geschätzte Schriftsteller Dieter Wellershoff in der Mitgliederkartei der NSDAP geführt wurde. Er selbst kann sich nicht erinnern, eingetreten zu sein. Auch die Schriftsteller Martin Walser und Siegfried Lenz und der Kabarettist Dieter Hildebrandt waren, als junge Spunde, offiziell NSDAP -Mitglieder, möglicherweise ebenfalls ohne ihr Wissen. Die meisten Historiker glauben nicht daran, dass es solche Pseudomitgliedschaften bei den Nazis gab.
    Zur gleichen Zeit fiel mir eine Biografie in die Hand: Albert Leo Schlageter. Ein deutscher Freiheitskämpfer . Den Verlag kannte ich nicht, ebenso wenig den Autor Wolfgang Mallebrein, beide kommen aus der rechten oder sogar rechtsextremen Ecke. Schlageter war ein Held der Nazis, ähnlich wie Horst Wessel. Sie haben ihm Dutzende von Denkmälern errichtet. Als französische Truppen 1923 das Ruhrgebiet besetzten, führte Schlageter dort auf eigene Faust eine Art Guerillakrieg, zum Beispiel sprengte er eine Eisenbahnbrücke. Die Franzosen erwischten ihn, verurteilten ihn wegen Sabotage zum Tod und ließen ihn in der Nähe von Düsseldorf standrechtlich erschießen. Fertig war der Held. Nun, viel schlimmer als Gudrun Ensslin kann er nicht gewesen sein.
    In dem Buch stand, dass die Nazis immer erklärt hätten, Schlageter habe zu den Gründern der Berliner NSDAP -Ortsgruppe gehört. Er stehe auch in der Berliner Mitgliederliste vom November 1922, Mitgliedsnummer 61. Nun zitiert der Biograf eine Menge Zeitzeugen, Schlageters Schwester, seine Nichte, einen Schulfreund, seinen Beichtvater, zwei andere Historiker, darunter einen, der sogar links sei. Alle erklären, dass Schlageter keineswegs Parteimitglied gewesen sei. Im Gegenteil, er habe die Nazis, ähnlich wie Ernst Jünger, nicht sonderlich gemocht. Die Liste mit der Nummer 61 sei eine Fälschung, sie hätten ihn ohne sein Wissen und postum in ihre Mitgliederliste aufgenommen. Schlageter ist quasi der Martin Walser unter den Terroristen..
    Ich denke oft, dass ich, zu gegebener Zeit, möglicherweise Nazi oder, in der DDR , bei der Stasi gewesen wäre. Ich weiß genau, dass ich kein Held bin und mich gern anpasse. Das habe ich schon mehrfach geschrieben, jedes Mal gibt es wütende Proteste, Leser, die mir vorwerfen, ich verharmlose. Das sehe ich genau umgekehrt.
    Ich glaube, dass der Charakter von Menschen unter allen Systemen ungefähr gleich bleibt und zu ungefähr den gleichen persönlichen Ergebnissen führt. Das heißt, wer heute Karriere macht und ehrgeizig ist und dafür, wie jeder, bei Bedarf schleimt, lügt oder Zugeständnisse macht, der hätte das Gleiche, nicht in jedem Einzelfall, aber wahrscheinlich, auch unter den Nazis oder in der DDR gemacht.
    Meine These: Unsere politische und kulturelle Elite würde, wenn heute die NSDAP oder die SED regieren würde, zu mindestens fünfzig Prozent aus denselben Leuten bestehen. Deswegen haben nur wenige überlebende Widerstandskämpfer und sehr wenige DDR -Dissidenten nach dem Systemwechsel Karriere gemacht. Und deswegen neige ich dazu, politische Außenseiter, auch wenn ich ihre Ansichten nicht teile, wegen ihres Nonkonformismus mit einem gewissen Grundrespekt zu betrachten.

Über das Chefsein
    Jeder Mensch möchte geliebt werden. Ich hatte diese Frau, die sich für mich um den Garten kümmerte und das Haus putzte. Die Frau hatte schon seit vielen Jahren für die Vorbesitzerin gearbeitet. Sie machte so weiter, wie sie es gewohnt war. Ich wollte verschiedene Dinge anders haben. Darauf ging sie nicht ein.
    Wenn ich eine neue Pflanze in den Garten pflanzte, setzte sie einen Zentimeter daneben eine andere Pflanze, eine, die der Vorbesitzerin gefallen hätte. Wenn ich ein Möbelstück verrückte, stellte sie es wieder an die Stelle zurück, wo die Vorbesitzerin es stehen hatte. Wenn ich in dem Haus ankam, stand die Frau ein paar Minuten später vor der Tür und versuchte unter einem Vorwand, in das Haus hineinzukommen. Ich dachte: »Sie beobachtet dich.« Morgens um sieben stand sie manchmal vor dem Schlafzimmerfenster. Einmal habe ich morgens um halb acht geduscht, sie ging am Bad vorbei in die Küche, die ebenerdig liegt, um
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