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Ansichten eines Clowns

Ansichten eines Clowns

Titel: Ansichten eines Clowns
Autoren: Heinrich Böll
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gibt alles her), die Kreismitglieder: Kinkel, Fredebeul, Blothert, Sommerwild, zwischen diesen beiden Namensäulen: Monika Silvs, um deren Namen ich eine hübsche Schleife malte. Karl Emonds mußte ich ein Telegramm schicken und ihn
    um einen Anruf bitten. Er hat kein Telefon. Ich hätte Monika gern als erste
    angerufen, würde sie aber als letzte anrufen müssen: Unser Verhältnis zueinander ist in einem Stadium, wo es sowohl physisch wie metaphysisch unhöflich wäre, wenn
    ich sie verschmähte. Ich war in diesem Punkt in einer fürchterlichen Situation: monogam, lebte ich wider Willen und doch naturgemäß zölibatär, seitdem Marie in
    »metaphysischem Schrecken«, wie sie es nannte, von mir geflohen ist. Tatsächlich war ich in Bochum mehr oder weniger absichtlich ausgerutscht, hatte mich aufs Knie fallen lassen, um die begonnene Tournee abbrechen und nach Bonn fahren zu
    können. Ich litt auf eine kaum noch erträgliche Weise unter dem, was in Maries religiösen Büchern irrtümlich als »fleischliches Verlangen« bezeichnet wird. Ich hatte Monika viel zu gern, um mit ihr das Verlangen nach einer anderen Frau zu stillen.
    Wenn in diesen religiösen Büchern stünde: Verlangen nach einer Frau, so wäre das schon grob genug, aber einige Stufen besser als »fleischliches Verlangen«. Ich kenne nichts Fleischliches außer Metzgerläden, und selbst die sind nicht ganz fleischlich.
    Wenn ich mir vorstelle, daß

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    Marie diese Sache, die sie nur mit mir tun sollte, mit Züpfner macht, steigert sich meine Melancholie zur Verzweiflung. Ich zögerte lange, bevor ich auch
    Züpfners Telefonnummer heraussuchte und unter die Kolonne derjenigen
    schrieb, die ich nicht anzupumpen gedachte. Marie würde mir Geld geben,
    sofort, alles, was sie besaß, und sie würde zu mir kommen und mir beistehen,
    besonders, wenn sie erführe, welche Serie von Mißerfolgen mir beschieden
    gewesen ist, aber sie würde nicht ohne Begleitung kommen. Sechs Jahre sind
    eine lange Zeit, und sie gehört nicht in Züpfners Haus, nicht an seinen
    Frühstückstisch, nicht in sein Bett. Ich war sogar bereit, um sie zu kämpfen,
    obwohl das Wort kämpfen fast nur körperliche Vorstellungen bei mir auslöst,
    also Lächerliches: Rauferei mit Züpfner. Marie war für mich noch nicht tot,
    so wie meine Mutter eigentlich für mich tot ist. Ich glaube, daß die Lebenden
    tot sind, und die Toten leben, nicht wie die Christen und Katholiken es
    glauben. Für mich ist ein Junge, wie dieser Georg, der sich mit einer
    Panzerfaust in die Luft sprengte, lebendiger als meine Mutter. Ich sehe den
    sommersprossigen, ungeschickten Jungen da auf der Wiese vor dem Apoll,
    höre Herbert Kalick schreien: »Nicht so, nicht so -«; höre die Explosion, ein
    paar, nicht sehr viele Schreie, dann Kalicks Kommentar: »Zum Glück war
    Georg ja ein Waisenkind«, und eine halbe Stunde später beim Abendessen an
    jenem Tisch, wo man über mich zu Gericht gesessen hatte, sagte meine
    Mutter zu Leo: »Du wirst es einmal besser machen als dieser dumme Junge,
    nicht wahr!« Leo nickt, mein Vater blickt zu mir herüber, findet in den
    Augen seines zehnjährigen Sohnes keinen Trost.
    Meine Mutter ist inzwischen schon seit Jahren Präsidentin des
    Zentralkomitees der Gesellschaften zur Versöhnung rassischer Gegensätze;
    sie fährt zum Anne-Frank-Haus, gelegentlich sogar nach Amerika und hält
    vor amerikanischen Frauenklubs Reden über die Reue der deutschen Jugend,
    immer noch mit ihrer sanften, harmlosen Stimme, mit der sie Henriette
    wahrscheinlich zum Abschied gesagt hat:
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    »Machs gut, Kind.« Diese Stimme konnte ich jederzeit am Telefon hören, Henriettes Stimme nie mehr. Sie hatte eine überraschend dunkle Stimme und ein helles Lachen.
    Einmal fiel ihr mitten in einem Tennismatch der Schläger aus der Hand, sie blieb auf dem Platz stehen und blickte träumend in den Himmel, ein anderes Mal ließ sie
    während des Essens den Löffel in die Suppe fallen; meine Mutter schrie auf, beklagte die Flecken auf Kleid und Tischtuch; Henriette hörte das gar nicht, und als sie wieder zu sich kam, nahm sie nur den Löffel aus dem Suppenteller, wischte ihn an der Serviette ab und aß weiter; als sie ein drittes Mal, während des Kartenspielens am Kamin, in diesen Zustand verfiel, wurde meine Mutter richtig böse. Sie schrie:
    »Diese verdammte Träumerei«, und Henriette blickte sie an und sagte ruhig: »Was ist denn, ich habe einfach keine Lust mehr«, und warf die Karten, die sie noch in
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