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Angstspiel

Titel: Angstspiel
Autoren: C. Bertelsmann
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verklebt. Ich weiß das, weil mir eine Schwester das erzählt. Ich gucke nicht hin. Langsam fängt es an wehzutun. Gegen die Schmerzen bekomme ich ein paar Kügelchen, die ich unter der Zunge zergehen lassen soll. Meine Mutter hantiert auch immer gerne mit so einem homöopathischen Quatsch.
    Die Beruhigungstabletten, die meine Ma von dem Doc bekommen hat, waren keine Kügelchen. Das war was Vernünftiges. Komische Prioritäten setzen die hier. Weil meine Mutter natürlich nicht an mein Impfbuch gedacht hat - selbst wenn sie daran gedacht hätte, hätte sie nie im
Leben gewusst, wo es ist -, bekomme ich noch eine fette Tetanusspritze.
    Und dann darf ich nicht nach Hause.
    Der Arzt bittet meine Mutter vor die Tür. Die Schwester tut so, als würde sie irgendwas um mich herum aufräumen. Sie wuselt völlig unkoordiniert hin und her. Mir wird schlagartig klar: Sie soll mich beobachten. Auf mich aufpassen. Ich spüre ihre Blicke, obwohl ich sie von der Liege aus nicht sehen kann.
    Nach anderthalb Ewigkeiten kommt meine Mutter wieder rein. Sie hat rote Augen. Hinter ihr sind der Arzt und ein Mann in Jeans. Der stellt sich nicht vor, sondern nur fest, dass ich also die Linda sei. Darauf sage ich nichts. Was auch? Zu viert - die Schwester hat ihre Scheintätigkeit aufgegeben und sich auch wieder dazugesellt - stehen sie um mich rum, gucken auf mich runter.
    »Wenn du gleich auf deinem Zimmer bist, würde ich gerne noch kurz mit dir reden«, sagt der Jeansmann. Er trägt original ein Jeanshemd zu einer Jeanshose. Irgendjemand müsste ihm mal sagen, dass man das echt nicht machen kann.
    »Ich habe hier kein Zimmer. Ich habe zu Hause ein Zimmer. Und da möchte ich jetzt hin«, antworte ich ihm.
    Meine Mutter schaltet sich ein. Sie redet schnell. Macht keine Pausen. Ich höre was von »viel Blut verloren«, »Sorgen machen«, »reden müssen«. Von »Übersprunghandlung« und »Hilferuf«. Außerdem sei ja das Fenster in meinem Zimmer jetzt kaputt und da könne ich also ohnehin nicht schlafen.
    Ich versuche ihre Worte zu verbinden. Es ist wie beim »Malen nach Zahlen«. Dabei muss man eine Linie von 1 nach 2, nach 3 und so weiter ziehen. Und wo vorher nur ein wirrer Haufen Punkte und Zahlen war, entsteht plötzlich ein Bild. Ich versuche die Halbsätze meiner Mutter so
zu verbinden, dass für mich ein Bild entsteht. Es gelingt mir nicht. Ich bleibe auf meinem Haufen mit Punkten und Zahlen sitzen. Wut kommt in mir hoch. Wenn ich damals nach Luises Unfall nicht so neurotisch reagiert hätte, könnte ich es jetzt sagen. Wenn ich mich damals ein bisschen zusammengerissen hätte und nicht durchgeknallt wäre, würden sie mir jetzt glauben. Wie können sie das jetzt, wo ich mit neun Jahren schon Psychopharmaka schlucken musste? Wo jeder glaubt, ich könne ohne Luise nicht leben? Hätte ich damals nur nicht so rumgesponnen. Ich könnte es erzählen: Von dem Chatroom, in dem fast alle aus meiner neuen Klasse sind. Und dass da ein Kaktus war. Dass ich mich super mit dem unterhalten konnte. An der Stelle würde mein Vater den Kopf schütteln und ich würde ihn beruhigen. Dass ich natürlich nicht meinen richtigen Namen oder gar meine Adresse verraten hätte. Dass man ja nie genau wüsste, wer sich hinter den Nicknamen versteckt. Im schlimmsten Fall so ein alter Sack, der sich an jungen Mädchen aufgeilt. Ein fieser schmuddeliger Typ mit vergilbten Zähnen und Raucherfingern.
    Ich müsste noch nicht mal lügen. Na ja, ein bisschen vielleicht. Ich müsste ein paar Sachen weglassen. Das schon. Vor allem das mit den Fotos im Internet. Ich würde einfach sagen, dass der Typ mir plötzlich komische Mails geschrieben hätte. Das hätte mir Angst gemacht. Und dann würde mein Vater an seinen Computer gehen, ein paar komische Befehlsketten eingeben und nach ein paar Minuten wüsste er, wer sich hinter »Kaktus« verbirgt. Und auf der Stelle würde er sich den Typen vornehmen. Oder ihn zur Polizei schleifen. Oder ihm nur damit drohen, falls er mich noch mal belästigt. Dann hätte sich Luise zu mir auf die Couch gekuschelt. Scheiß-Paul hätten wir vor dem Familiengespräch natürlich nach Hause geschickt.
Und morgen wäre dann der erste Tag seit gefühlten hundert Jahren, an dem ich nicht mit einem Klumpen aus Angst im Bauch aufwachen würde.
    So könnte mein Drehbuch aussehen. Wenn das Wörtchen »wenn« nicht wär … Aber da ich anscheinend schon mit einem Bein in der Klapsmühle bin, darf ich jetzt auf keinen Fall noch mehr erzählen. Mein
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