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Angst (German Edition)

Angst (German Edition)

Titel: Angst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Kurbjuweit
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weil mich Angst vor meiner Rührung befiel. Jedenfalls hatte ich einen Mann gesehen, dem viel zuzutrauen ist, wenn einem seiner Kinder etwas Böses geschieht. Heute weiß ich, dass mein Vater mich liebt, immer geliebt hat. Die Männer dieser Generation lieben anders als wir, sie lieben ohne Anzeichen.
    Ich mache das anders mit Paul und Fee, und deshalb nenne ich mich manchmal den Gegenvater, obwohl mir das Wort nicht gefällt. Lange habe ich gedacht, dass ich meinem Vater entkommen sei, Autos interessierten mich nicht besonders, ich war kein Verkäufer, ich war nicht bei Ford, ich bin ein ganz anderer Mensch geworden. Das war immer mein Vorteil, dachte ich, eine Frau wie Rebecca konnte kaum anders, als Medizin zu studieren, weil die Mutter ihr ein starkes Vorbild war. Für mich war das Feld frei, ich musste nicht das tun, was mein Vater tat, weil ich meinen Vater ablehnte. Ich bin frei, dachte ich. Was für ein törichter Satz. Wir können unseren Eltern nicht entkommen, wir gehen ihren Weg, oder wir gehen einen anderen Weg, weil wir ihren nicht gehen wollen. Auch als Gegenvater bin ich ein Abkömmling meines Vaters, handele auf eine bestimmte Weise, weil er nicht so gehandelt hat. Nichts ist so tief in uns drin wie unsere Eltern, wir werden sie nicht los. Das ist mir erst spät klargeworden. Bei unseren Abendgesellschaften gibt es kein größeres, kein bewegenderes Thema als Eltern. Das sind die Momente, wenn Fünfzigjährige wie Kinder sind, über Verletzungen weinen, die sie vor zweiundvierzig Jahren erlitten haben, Sätze ersehnen, die seit fünfundvierzig Jahren nicht mehr gesagt wurden, und am liebsten, am allerliebsten würden sie gerne von der Mama oder dem Papa in den Arm genommen werden, in genau diesem Moment.
    Ich sah Herrn Tiberius noch zwei- oder dreimal im Garten. Er hielt sich fern von mir, blieb bei seiner Tür, und wenn ich vom Liegestuhl aufstand, zog er sich zurück. Ein Messer hatte er nicht mehr dabei, auch keinen Apfel. Verschwinden Sie, rief ich ihm zu. Er sagte, dass er hier sein dürfe, und so, wie die Rechtslage war, hatte er recht. Ich begnügte mich fortan damit, irgendwann aufzustehen, damit seine unerträgliche Präsenz beendet wurde. Die Kinder hüpften auf dem Trampolin, sie achteten nicht auf Herrn Tiberius. Einem Freund hatte ich die Episode mit dem Messer erzählt, allerdings ohne den Apfel zu erwähnen. Es war idiotisch, diese Lücke zu lassen, aber ich hatte mehr und mehr den Eindruck, dass andere unsere Lage als nicht so dramatisch empfanden wie wir selbst, weil nichts Dramatisches passiert ist. Sie konnten den stillen Terror nicht nachempfinden, den Terror der eigenen Gedanken. Deshalb ließ ich einmal den Apfel weg, um endlich verstanden zu werden. Aber das führte dazu, dass mein Freund der Meinung war, die Lage sei so dramatisch, dass wir sofort ausziehen müssten. Zudem konnte er nicht glauben, dass uns der Rechtsstaat nicht hilft, wenn einer mit einem Messer auf uns losgeht. Er ist ja nicht wirklich auf uns losgegangen, sagte ich, und mir wurde klar, dass ich einen Fehler gemacht hatte, dass unser Drama war, auf eine undramatische Art bedroht zu sein. Ich hörte auf, meinen Freunden von Herrn Tiberius zu erzählen. Wenn sie fragten, antwortete ich wortkarg, schwammig. Es gebe nichts Neues.
    Im August fuhren wir wieder für drei Wochen nach Menorca. Wir hatten zunächst einen guten Urlaub, die unmissbrauchten Kinder waren fröhlich, aber das waren sie in jener Zeit zu Hause auch. Aber dann passierte etwas, das Rebecca und mich traurig gemacht hat. Als wir an einem Spätnachmittag vom Strand zu unserem Haus zurückgingen, bepackt mit Handtüchern, einem leeren Verpflegungskorb, Schwimmflossen und so weiter, passierten wir wie immer eine niedrige Mauer aus Natursteinen. An einer Stelle war unten ein Loch, und die Kinder blieben stehen, um darüber zu rätseln, warum es dort ein Loch gibt. Für Tiere, sagte Fee, und das leuchtete uns allen ein. Wir stellten uns ein paar Tiere vor, die durch dieses Loch kriechen könnten, Katzen, Hunde, Füchse, wenn es Füchse gab auf Menorca, Marder, Krokodile, sagte ich. Gibt’s hier nicht, wusste Paul, aber Lämmchen, krähte Fee. Dann sagte Paul: Der Tiberius passt hier aber nicht durch. Das war ein Schock für uns. Wir waren in der dritten Urlaubswoche, wir hatten kaum über Herrn Tiberius gesprochen und natürlich überhaupt nicht vor den Kindern. Warum kam Paul jetzt auf ihn? Was arbeitete in meinem Jungen? Nein, der ist zu dick, sagte

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