Angezogen - das Geheimnis der Mode
muss, bleiben die Spuren der Zerstückelung eingetragen. Seitdem Martin Margiela an Diesel verkauft und sich aus dem Haus Martin Margiela zurückgezogen hat, lässt sich ein ästhetischer Umbruch beobachten. Seit der Sommerkollektion 2007 und verstärkt noch in der Winterkollektion desselben Jahres wird in einem neuen Nackten in den Kleidern das Verhältnis von künstlich geschaffenem und gezeugtem, natürlichem Fleisch verhandelt.
Zeuxis verkehrt: Zeit im Kleid
Von Anfang an hat sich Margielas Arbeit durch eine historische Tiefendimension ausgezeichnet, die dem in der Mode üblichen Historismus gegenläufig ist. Nicht eine vergangene Epoche wird zum Leben erweckt, sondern umgekehrt wird Zeit als Vergänglichkeit gezeichnet. Um das augenfälligste Beispiel zu nehmen: Der weiße Stoff, mit dem die Möbel in den Geschäften überzogen sind, wurde ursprünglich gewählt, weil die Zeit in keiner Farbe so offensichtlich und vielfältig ihre Spuren hinterlässt. Weiß verschießt und verbleicht nicht nur wie alle anderen Farben; es bekommt Grauschleier, es vergilbt. Zwei für die Mode konstitutive Momente, nämlich erstens die vollkommene, unsichtbare Handarbeit und zweitens der Effekt der ewigen Gegenwart werden von Margiela in seinen unfertigen Kleidern unterlaufen. 125 Dieser Mode geht es nicht um das Hervorrufen eines bezaubernden Moments, der Zeit als Vergänglichkeit löscht, sondern um Mode als Gedächtniskunst. Der französische Modetheoretiker Roland Barthes sah Mode als ein Elixier des Vergessens. Um den Preis einer ewigen Gegenwart werden, so Barthes, Gedächtnis und Erinnerung ausgelöscht. 126 Margiela hingegen legt die geheime, vor den Augen der Welt verlorene Geschichte des Kleides bloß. Er exponiert die in dasKleid eingegangene Arbeit, die normalerweise im fertigen Kleid unsichtbar bleibt. Viele Kollektionen stellten als Zeitzeichen im ganz wörtlichen Sinne einen Bezug zur Vergangenheit her: zu einer Zeit, die vorbeigegangen ist, und zum Vorbeigehen der Zeit. Alte Kleider wurden nachgenäht und wie in einem Museum mit Ort und Datum versehen; Foulards vom Flohmarkt zu Röcken genäht; das Altern der Stoffe wie das Vergilben oder der Befall durch Schimmelpilz imitiert oder tatsächlich in Gang gesetzt. Die Geschichte der Mode – ihre Schnitttechniken, ihre Verschlussmethoden – wurde von Margielas Kleidern kommentiert. Ein Hauch von Melancholie umwehte diese Kreationen. Auf dem Höhepunkt von Margielas Karriere finden wir eine ganz und gar eigenartige antike Statue. Die Statue, Inbegriff des Ewigen, wird zum provisorischen und paradoxen Emblem einer radikalisierten Ästhetik. Mit diesem »Neuen Klassischen« verlassen wir die Mode und bewegen uns auf dem Terrain der Kunst. Diese Kunst streicht sich jedoch paradox selber durch; denn was sie ausstellt, ist ihre Vergänglichkeit, die in ebendiesem Prozess für einen Moment ein Nachbild der ewigen Unvergänglichkeit der Kunst stellt. Inszeniert wird die Selbstzerstörung. Im Boijmans-Van-Beuningen-Museum in Rotterdam wurden Margielas Schneiderpuppen Regen und Wind ausgesetzt. Man mag an Horaz’ Exegi monumentum denken: seinen Anspruch nämlich, der ja im Kern der Anspruch aller Kunst ist, ein Kunstwerk zu schaffen, das Regen, Sturm, Wind, Sonne, kurz den Jahren trotzt und ewig dauert. Diesen Anspruch nun verkehrt diese Statue Margielas. Den Prozess des Zerfalls verschärfte und beschleunigte der Designer künstlich. Der Zahn der Zeit nagte ihm zu langsam: Mikrobiologen hüllten Kleider und Puppen in einen Bakterienbelag. Das Resultat dieser Zersetzung ist der Inbegriff der neuen, alten Ästhetik: das unheimliche Nachbild einer klassischen Statue, Inbegriff des ewigen Kunstwerks, das hier nicht in weißen Marmor gehauen erstrahlt, sondern durch eine Pilzattacke erzeugt wird. Eine Schneiderpuppe trägt ein weites Kleid, über das ein durchsichtiges,hüftlanges Nylonshirt gezogen ist. Wie unbeabsichtigt legt das T-Shirt das Kleid in anmutige, leicht diagonale Falten, ohne sie flachzupressen. Das ganze Kleid wird von einer grünlichen Schicht überzogen. Der verblüffende Effekt ist der einer antiken Statue.
Mannequin: Entstaltetes Kleid
Dass der Körper nicht natürlich ist, sondern in einem Kultivierungsprozess erschaffen wird, gibt die Mode Margielas uns zu lesen. Ars adeo latet arte sua (Kunstvoll verbirgt die Kunst sich selbst): die Vorstellung, dass das Kleid die Technik, die Kunstfertigkeit, die für die Konstruktion eines idealisierten Körpers
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