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Angezogen - das Geheimnis der Mode

Angezogen - das Geheimnis der Mode

Titel: Angezogen - das Geheimnis der Mode
Autoren: Barbara Vinken
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dieser neuen, alten Weiblichkeit – à la »viva la mamma« – spielen.
    Die Oberteile, eher weit, schließen knapp unter dem Po ab. Manchmal sieht man eine Andeutung von ganz kurzem Ballonrock. Auch wenn, traditioneller, ein schmaler, kurzer Mantel wie ein Gehrock mit Halbschuhen getragen wird, liegt die Betonung auf dem langen, blickdicht bestrumpften oder hauteng behosten Bein. Im Sommer werden die Stiefel durch Ballerinas oder besser durch Plateauholzschuhe ersetzt. Die Farbe – wir sind in New York – meistens schwarz. Die luxuriösere Variante zu diesem Look sind enge Lederhosen mit Ankle-Boots, die dann mit einem weiten Kaschmirpullover und einer kurzen, federartigen Pelzweste getragen werden. Oder Stiefel, die, aus feinem, schmiegsamem Leder, so elastisch wie Strümpfe, hoch über dem Knie enden.
    Fast alle Frauen sind geschminkt, Make-up, Lippenstift, die jüngeren oft mit flüssigem Lidstrich. Falsche Wimpern liegen im Trend. Fast alle tragen Schmuck: Ohrringe, Halsketten und Armbänder mit Charms. Der Schmuck kommt nicht mehr im Set, Ohrringe passen nicht mehr zu Halsketten. Bloß keine aufwendigen, raffinierten Fassungen und Schliffe. Dieser Schmuck wirkt nicht mehr wie das, was Schmuck einst war: Inbegriff von téchne, von Kunst und Kunstfertigkeit. Jetzt kommter als objet trouvé; zufällig zusammengestellt suggeriert er, nichts als individuelles Erinnerungszeichen zu sein. Manchmal hat er etwas Selbstgebasteltes und gibt sich als Geschenk eines kleinen Mädchens. Manchmal wirkt er wie ein ethnologisches Exponat, das Indianer oder andere »Primitive« von Hand hergestellt haben sollen. Oder wie ein Relikt aus dem heroischen Zeitalter der Industrialisierung, das man in einer Fabrikhalle als Antiquität der Moderne gefunden hat. Selbstgemacht zufällig und nicht kunstfertig planvoll wie der Schmuck unserer Mütter und Großmütter.
    Manche, meist junge, sehr schlanke und offensichtlich auf gutes Angezogensein bedachte Männer betonen die Beine auch mit ganz engen Hosen und Mänteln, die über dem Knie enden. Aber die kommen erst später am Tag zum Flanieren auf den Square. Diese Kontur, die die Hüftlinie nach unten verschiebt, akzentuiert die Proportionen anders. Ist diese Verschiebung der Silhouette eine grundsätzliche Veränderung? Die männliche Silhouette hat im modernen Anzug ihre klassische Form gefunden. Der Anzug modelliert den Körper nicht eng, sondern idealisiert ihn in die antike V-Form. Mit schmalen Hüften und breiten Schultern wird der Bürger zum athletischen Helden. Gesäß und Geschlecht sind durch die Anzugjacke bedeckt. Es gibt kein Spiel zwischen nackter Haut und Stoff; bis auf die Hände und das Gesicht sieht man vom Körper nichts. Die engen Hosen der jungen Männer variieren diese klassische Männersilhouette. Die weibliche Silhouette mit den endlos langen, blickdicht bestrumpften oder behosten Beinen ist hingegen neu. Frauen waren noch nie so angezogen.
    Während die männliche Silhouette minimalen Variationen unterliegt und in ihren grundsätzlichen Proportionen seit fast 200 Jahren von klassischer Zeitlosigkeit ist, zeigt die weibliche Silhouette in dieser Zeitspanne rasante Wechsel. Der klassischen und klassisch modernen Herrenmode steht eine historistische Damenmode gegenüber, die aus einem unendlichen Zitatfundus der Mode wie aus einer Klamottenkisteauf dem Speicher beliebig zu schöpfen scheint. Klassisch-moderne Zeitlosigkeit auf der männlichen Seite steht einem historistischen Recycling auf der weiblichen gegenüber, das manche als ebenso willkürlich wie ermüdend empfinden. Nicht modern, sondern anachronistisch ist die weibliche Mode.
    Beliebig, so scheint es, ist alles längst zur Masche geworden. Wir leben in einer Zeit des Revivals der Vierziger-, Fünfziger- oder Sechzigerjahre; man weiß manchmal nicht mehr genau, ob die Siebziger oder die Achtziger gerade ein Comeback feiern. Mit Watteaus Pierrot oder Marie Antoinette, die wie ein Gespenst in den Schaufenstern von Barneys erscheint, kommt das 18. Jahrhundert zurück. Sobald eine Mode vergessen ist und damit nicht mehr altmodisch wirkt, kann sie zum letzten Schrei wachgeküsst werden. Man hat deswegen von der tyrannischen Beliebigkeit der Mode gesprochen, die aus dem Blauen heraus ihre Launen diktiert.
    Doch der Eindruck täuscht: Die Moden entwickeln sich nicht völlig unvorhersehbar. Sie verdanken sich nicht dem blinden Zufall. Deshalb ist es durchaus möglich, die Mode zu denken. 1 Der Modewandel zeigt
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