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Angelfall: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)

Angelfall: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)

Titel: Angelfall: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
Autoren: Susan Ee
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besteht wenig Hoffnung, dass wir uns noch irgendwo treffen, aber ich muss weiter Hoffnung vortäuschen, denn sie ist alles, was wir haben.
    Ich lege mein Ohr an die Eingangstür unseres Wohnhauses. Nichts. Kein Wind, keine Vögel, keine Autos, keine Stimmen. Ich ziehe die schwere Tür einen Spalt breit auf und spähe nach draußen.
    Abgesehen von ein paar einsamen geparkten Autos sind die Straßen verlassen. Das schwindende Licht verwäscht die Farben von Beton und Stahl zum Abglanz eines matten Grau.
    Der Tag gehört den Flüchtlingen und den Raubzügen der Gangs. Doch nachts verschwinden sie, bei Anbruch der Dämmerung lassen sie die Straßen menschenleer zurück. Um diese Zeit herrscht eine große Furcht vor dem Übernatürlichen. Beide, die tödlichen Jäger und ihre Beute, scheinen übereingekommen zu sein, ihren archaischen Ängsten zu gehorchen und sich bis Sonnenaufgang versteckt zu halten. Selbst die gefürchtetsten Straßengangs überlassen die Nacht den Kreaturen – welche auch immer das sein mögen –, die in der Dunkelheit dieser neuen Welt umherstreifen.
    Zumindest haben sie das bislang getan. Irgendwann wird der Verzweifeltste unter ihnen den Schutz der Nacht trotz aller Gefahren für sich nutzen. Ich hoffe, wir sind die Ersten da draußen, die Einzigen, und sei es nur, damit ich Paige nicht mit Gewalt davon abhalten muss, jemandem zu helfen, der in Not geraten ist.
    Mom packt mich am Arm, als sie in die Nacht hinausstarrt. Ihr Blick ist intensiv und voller Furcht. Seit Dad uns letztes Jahr verlassen hat, hat sie so viel geweint, dass ihre Augen ständig geschwollen sind. Besonders vor der Nacht hat sie Angst, doch dagegen kann ich nichts tun. Gerade will ich ihr sagen, dass alles gut wird, doch die Lüge bleibt mir im Hals stecken. Es ist sinnlos, ihr ein Gefühl von Sicherheit vermitteln zu wollen.
    Ich hole tief Luft und reiße die Tür auf.

2
    Sofort fühle ich mich ausgeliefert. Meine Muskeln spannen sich an wie in der Erwartung, jeden Moment angeschossen zu werden.
    Ich packe Paiges Stuhl und rolle sie aus dem Gebäude hinaus. Forschend tasten meine Blicke den Himmel und die Umgebung ab, als wäre ich ein Hase auf der Flucht vor Jägern.
    Die Schatten über den verlassenen Gebäuden, Autos und dem vertrockneten Buschwerk, das seit sechs Wochen nicht gegossen worden ist, werden schnell dunkler. Irgendein Graffitikünstler hat einen wütenden Engel mit riesigen Flügeln und einem Schwert an die Mauern unseres Wohnhauses gesprüht. Ein gewaltiger Riss in der Mauer läuft in einer Zickzacklinie durch sein Gesicht und verzerrt es zu einer irren Fratze. Darunter hat ein Möchtegernpoet die Worte Wer wacht über die Wächter? gekritzelt.
    Mit Schwung schiebt meine Mutter den Einkaufswagen durch die Tür auf den Bürgersteig. Das scheppernde Geräusch lässt mich zusammenzucken. Wir knirschen über zerbrochenes Glas, was mich in der Annahme bestärkt, dass wir uns länger in unserem Haus versteckt gehalten haben, als gut für uns ist. Die Fenster im ersten Stock sind zerborsten.
    Und jemand hat eine Feder an die Tür genagelt.
    Nicht eine Sekunde glaube ich, dass es sich um eine echte Engelsfeder handelt, auch wenn es ganz offensichtlich so aussehen soll. Keine der neuen Gangs ist so stark oder wohlhabend. Noch nicht zumindest.
    Die Feder wurde in rote Farbe getaucht, die nun am Holz hinuntertropft. Zumindest hoffe ich, dass es sich um Farbe handelt. Das Symbol der Gang habe ich die letzten paar Wochen immer wieder an Supermärkten und Drug Stores gesehen, wo sie menschliche Aasgeier abschrecken sollten. Es wird nicht lange dauern, bis die Mitglieder der Banden kommen, um für sich einzufordern, was auch immer sich in den oberen Stockwerken befindet. Tja. Zu schade, dass wir dann nicht mehr da sein werden. Im Moment sind sie noch damit beschäftigt, ihre Gebietsansprüche geltend zu machen, bevor ihnen rivalisierende Gangs zuvorkommen.
    Wir sprinten zum nächsten Auto und gehen dahinter in Deckung.
    Ich muss mich nicht umdrehen, um zu wissen, dass Mom mir folgt. Ich merke es am Rattern des Einkaufswagens. Rasch blicke ich mich nach allen Seiten um. In den Schatten rührt sich nichts.
    Zum ersten Mal, seit ich diesen Plan für uns geschmiedet habe, fühle ich Hoffnung in mir aufflackern. Vielleicht ist heute so eine Nacht, in der nichts auf den Straßen passiert. Keine Banden, keine Überreste verspeister Tiere, die man am Morgen findet, keine Schreie, die durch die Nacht hallen.
    Meine Hoffnung
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