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Anatomie einer Affäre: Roman

Anatomie einer Affäre: Roman

Titel: Anatomie einer Affäre: Roman
Autoren: Anne Enright , Hans-Christian Oeser , Petra Kindler
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dass sie sich davonmachen soll, solange die Gelegenheit günstig ist. Dass sie sich nicht die Mühe machen soll, heranzuwachsen.
    Kehr um! Es ist eine Falle!
    Sie entdeckt mich und steckt das Handy weg. Ich sehe, dass sie an diesem kalten Tag so gut wie nichts anhat. Einen kurzen Jeansrock, eine blickdichte Strumpfhose, eine kleine schwarze Baumwolljacke, einen karierten Schal mit Bommeln und Metallfäden. Ihr einziges Zugeständnis an die Eiseskälte sind fingerlose Handschuhe und Ugg-Stiefel. Vielleicht hat sie ihren Mantel ja in ihrem Rucksack. Ich kann mir den Streit ausmalen, den es vor dem Verlassen des Hauses gegeben haben muss.
    »Uggs!«, sage ich beim Näherkommen. »Irgendwann trifft es uns alle.«
    Woraufhin sie ein leidgeprüftes Lächeln aufsetzt.
    Allmählich begreife ich Evies Schweigen, das in zahlreichen Varianten daherkommt. Ihr Geplapper dagegen ist unendlich gleichförmig: schwer zu ertragen und noch schwerer zu behalten. Ich weiß nicht, wie Seán bei Verstand bleibt. Es besteht größtenteils aus Meinungen, gebildet aus den Vorlieben und Abneigungen, die einem MTV zur Auswahl stellt: Dies mag ich nicht, jenes mag ich. Meine Freundin Paddy sagt, dass sie dies und jenes mag, daraufhin ich: »Wie kannst du das nur mögen?« Das alles vermischt mit Szenen aus Kinofilmen, einigen kleinen Sorgen um die Zukunft des Planeten und einigen großen Sorgen um das Drachenspiel, das sie früher online gespielt hat, jetzt aber nicht mehr, weil niemand mehr darauf abfährt. Sie fährt darauf ab, auf Dinge abzufahren. Sie fährt hochgradig auf Ungerechtigkeit ab, ist glühende Verfechterin des Egalitarismus, gegen Designermarken, gegen Mobbing und sagt, ihre Freundin Paddy stimme ihr in allem zu (fast im gleichen Atemzug sagt sie, ihre Freundin Paddy fliege ausschließlich Businessclass).
    Ich habe das Gefühl, die Welt wäre besser dran, wenn sie von Mädchen regiert würde, die fast zwölf sind – dank ihrer Fähigkeit, gleichzeitig vollkommen moralisch und vollkommen korrupt zu sein. Der Kapitalismus würde zweifellos florieren.
    »Möchtest du einen Einkaufsbummel machen?«, frage ich und erlebe eine wache, geradezu animalische Reaktion.
    »Okay.«
    »Wohin möchtest du gehen?«
    Es stellt sich heraus, dass Evie unter einem Einkaufsbummel versteht, in Geschäfte zu gehen, die billige Seife verkaufen, sei sie umweltbewusst oder frisch hergestellt.
    Schweigend laufen wir zur Grafton Street.
    »Den Bus hast du gekriegt?«
    Bis wir an einem Baby in einem kleinen Kinderwagen vobeikommen.
    »Ngooooh«, sagt sie.
    Evies Interesse an Babys ist so ausgeprägt, dass es Anlass zur Besorgnis geben könnte, wäre da nicht ihr etwa doppelt so großes Interesse an Hunden.
    Sie kann an keinem Baby vorübergehen, ohne wenigstens einen Moment lang in seine Haut zu schlüpfen. »Er mag die Kälte nicht«, sagt sie dann, oder: »Die Mütze ist ihr über die Augen geruscht«, oder einfach: »Ngooooh!« Mir kommt das ungewöhnlich vor, und ich weiß nicht, wohin das alles noch führen soll.
    »Hat sich dein Papa bei dir gemeldet?«
    »Mm.«
    »Hat er gesagt, wann er wieder zu Hause ist?«
    »Ich glaube, er hat gesagt, dass er im Flieger sitzt.«
    Ich überlasse sie den Reihen duftender Flaschen, dem Aufdrehen von Verschlüssen, dem Schnüffeln und Einreiben, das dieser Laden erfordert. Feuchtigkeitscremes, Gesichtswässer, Peelings – ich merke, dass sie keine Erfahrung damit hat und leicht enttäuscht ist.
    »Ich glaube, es ist an der Zeit«, sage ich. »Dein Niveau zu heben.« Und ich gehe mit ihr die Straße hinunter in eins der schicken Geschäfte und zu einem Gestell mit Parfüms, die sie mit stiller Aufmerksamkeit studiert. Am Ende fällt ihre Wahl auf Sycomore, ein Parfüm, das so sehr dem Geschmack meiner Mutter entspricht, dass ich mich merkwürdig fehl am Platze fühle.
    »Das hat meine Mutter gemocht«, sage ich.
    Und sie wirft mir einen Seitenblick zu, der zu besagen scheint, dass Leute meines Alters keine Mütter haben sollten. Und tatsächlich habe ich ja auch keine.
    »Meine Mutter«, fahre ich fort, denn ich versuche, mich durch etwas hindurchzuarbeiten, »hätte es natürlich nie gekauft. Sie hat es immer nur ausprobiert – also jedes Mal, wenn sie in die Stadt kam – und dann entschieden, dass es, nun ja, nicht das Richtige für sie war.«
    »Cool«, sagt Evie.
    Eine unglaublich hochgewachsene Verkäuferin attackiert uns im Vorrübergehen.
    »Ja? Sie möchten sich erfrischen?«
    Evie wedelt, sich vage
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