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Anatomie einer Affäre: Roman

Anatomie einer Affäre: Roman

Titel: Anatomie einer Affäre: Roman
Autoren: Anne Enright , Hans-Christian Oeser , Petra Kindler
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ich beschwichtigend mindestens einmal. Möglicherweise zweimal. Vielleicht dreimal.
    »Was sagt deine Mama dazu?«
    »Da würde ich erst deine Mama fragen.«
    »Ich glaube nicht, dass deiner Mama das gefallen würde.«
    Die Zombie-Ehefrau ist wieder da.
    Es ist eisig kalt. Ich gehe mit ihr in ein Café, um ein heißes Getränk mitzunehmen, und in der Warteschlange wird mir klar, dass sie für Kaffee zu jung ist.
    »Manchmal trinke ich Pfefferminztee.«
    Ich glaube, in ihrem Alter habe ich bereits Kaffee getrunken, auf jeden Fall Tee – aber vielleicht irre ich mich. Meine Mutter ist tot, darum habe ich niemanden, der mich in dieser Frage eines Besseren belehren kann.
    Nachdem Evie lange die Etiketten und Schilder angestarrt hat, entscheidet sie sich für eine heiße Schokolade. Sie holt ihre Geldbörse aus ihrem Rucksack und wühlt darin nach Geld.
    »Nein, geht schon in Ordnung.«
    Ich zahle an der Kasse und denke an den Tag, an dem Aileen das gemeinsame Konto geleert hat – das war vielleicht ein Spaß! Wie hat sie es geschafft, ein so reinherziges Kind aufzuziehen?
    Es kommt mir seltsam vor, dass Evie keine Erinnerung an ihre eigene Kindheit hat, während ich mich an sie erinnere: Evie in Fionas Garten, Evie am Strand. Es ist, als würde sie sich ständig wegschenken und kaum etwas für sich zurückbehalten.
    Ich reiche ihr die heiße Schokolade und nehme ihren Rucksack, und weil es draußen so kalt aussieht, kuscheln wir uns an einen Tisch und reden über Hunde.
    Evie erzählt, dass ihr Papa als kleiner Junge einen Irish Red Setter hatte, der Eier aus einem nahen Hühnerstall stibitzte und dessen Maul so weich war, dass er nach Hause laufen konnte, ohne die Schale zu zerbrechen.
    »Wirklich?«, sage ich.
    Gespräche mit Kindern haben etwas so Förmliches, man muss ausgesprochen höflich sein. Etwas anderes verstehen sie nicht.
    »Weißt du, wie man einen Wachhund ausbildet?«, fragt sie.
    »Nein, eigentlich nicht. Du denn?«
    Evie korrigiert sich ständig selbst. Das kommt daher, weil alles, was sie sagt, in der falschen Reihenfolge herauskommt.
    »Als mein Papa klein war und sie einen Hund hatten. Da hatte jemand einen Hund, und den haben sie im Kofferraum eingesperrt. Und am ersten Tag sind sie an dem Kofferraum vorbeigekommen, und der Hund hat gebellt, und am zweiten Tag haben sie an den Kofferraum geklopft, und der Hund hat verrücktgespielt, und ungefähr am vierten Tag – «
    »Vier Tage?«, frage ich.
    »Ich weiß«, sagt sie. »Am vierten Tag war der Hund ganz still, und da haben sie den Kofferraum aufgemacht. «
    Dann beginnt sie von vorn.
    »Nein, der neue Besitzer des Hundes. Wenn man dem Hund einen neuen Besitzer geben will. Weil ein Wachhund wird ausgebildet, damit er eine einzige Person beschützt und alle anderen angreift. Darum geben sie dem neuen Besitzer ein Stück Fleisch, und er muss hingehen und den Kofferraum aufmachen.«
    »Lieber Himmel.«
    »Und der Hund kann kaum sehen oder sonst was, weil er im Dunkeln gewesen ist, und er nimmt bloß das Fleisch, und er leckt dir die Hand, und dann liebt dich der Hund für den Rest deines Lebens.«
    »Das hat er dir erzählt?«
    »Ja.«
    »Dein Vater?«, frage ich.
    »Was?«
    »Hat dein Vater das mit einem Hund gemacht?«
    »Als er ein Junge war.«
    »Wer hat den Hund in den Kofferraum gesperrt?«
    »Ich weiß nicht, wer das gemacht hat«, sagt sie.
    Ich betrachte dieses Kind und denke an die Tage und Wochen, an die Monate meines Lebens, die ich damit verbracht habe, darauf zu warten, dass ihr Vater mich anruft. Ist das etwas, das sie wissen sollte?
    Ich möchte ihr erzählen, dass ich im Dunkeln vor ihrem Haus gesessen und das Lenkrad umklammert habe, während sie sechzig Schritte entfernt schlief. Hinter diesen Steinmauern stellte ich mir ihren Vater vor und konnte mich kaum rühren, so intensiv waren die Bilder: Seán, der sich in diesem Zimmer oder jenem aufhielt, dieser oder jener Verrichtung nachging, die nur schwer zu erahnen oder zu beschreiben war. Stunden brachte ich damit zu, mich ihm aufzuzwingen. Und wissen Sie was? Womöglich war er nicht einmal zu Hause.
    »Also, erzähl mir noch was über Hunde«, sage ich.
    »Von meinem Papa?«
    »Ja. Warum nicht?«
    »Seine Mama hatte einen Springer Spaniel, und der ist unter ein Auto gerannt, und sie hat gesagt, sie ist so traurig, dass sie nie wieder einen anderen haben will.«
    »Deine Oma?«
    »Meine Nana.«
    »Aha. Magst du deine Nana?«
    »Was?«
    Seán würde mich umbringen, wenn er hörte,
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