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Anatomie einer Affäre: Roman

Anatomie einer Affäre: Roman

Titel: Anatomie einer Affäre: Roman
Autoren: Anne Enright , Hans-Christian Oeser , Petra Kindler
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auf Dyspraxie untersuchen lassen, womit eigentlich nur »Tollpatschigkeit« gemeint war, aber ich garantiere Ihnen, dass ich auch schon gesehen habe, wie sie sich mit großer Gewandtheit bewegt. In diesem Haus beschränkt sich ihre Tollpatschigkeit auf Gegenstände, die mir gehören.
    Sie isst nichts von dem, was sie essen soll, stattdessen alles, was verboten ist. Aber sie isst. Was ich für ein kleines Wunder halte. Sie klaut, sie nascht, sie stopft sich voll. Sie wartet – eigentlich ein bisschen wie ich –, bis ihr Vater weggeht. Die Kühlschranktür ist der Ort, an dem wir uns am häufigsten begegnen.
    Vor zwei Monaten, als Seán gerade beim Sport war und Evie sich beschwerte, dass ich die Mayonnaise aufgebraucht hatte, schleuderte ich meine Tasche auf den Küchentisch und sagte: »Warum kaufst du dir dein beschissenes Essen nicht selbst?«
    Nicht sehr hübsch, aber wahr.
    Evie sah mich an, als würde sie mich zum ersten Mal wahrnehmen. Später am selben Tag sagte sie etwas zu mir, etwas, das nicht nur Genörgel war wie: »Warum hast du kein Sky TV?«
    Sie sagte: »Ich fasse es nicht, wie viele Schuhe du hast.«
    Und ich musste aus dem Zimmer gehen, um mir hinter der Tür die Faust in den Mund zu stopfen und so zu tun, als würde ich hineinbeißen.
    Ich suche meine Wanderstiefel, und schließlich finde ich sie auf einem Regal, eingewickelt in eine Papiertüte, die den ganzen Weg von Sydney gekommen ist. Seitdem habe ich sie nicht mehr getragen. Es scheint, als hätte mein Leben eine Wendung genommen, die nur auf hohen Absätzen zu bewerkstelligen ist. Ich nehme sie aus der Tüte und schüttele den roten Staub Australiens auf unserem Küchenfußboden aus. Meine Traumstiefel. Ich ziehe sie an und gehe nach draußen.
    Der Nachmittagsschnee hat eine glänzende Kruste, die unter den Sohlen nachgibt, als ich den Garten durchquere, das Tor öffne und mich all den anderen Spuren auf dem Fußweg in die Innenstadt anschließe. Im Schatten ist der Matsch wieder vereist, und die Mühsal des Gehens zwingt meinen Blick fortwährend nach unten. Ich tue einen tückischen Schritt nach dem anderen, und zunächst will es mir nicht gelingen, das innere Gezeter abzuschütteln.
    Es ist bitter, hinter einem Kind zurückstehen zu müssen – es war schlimm genug, hinter seiner Mutter zurückstehen zu müssen –, und mir fällt ein, was Seán in seinem Bericht für Rathlin Communications, die inzwischen hingeschiedene (was für eine Ironie!) Firma, über mich gesagt hat. In dem Bericht, den ich heimlich überflogen hatte, war – neben etlichen Belobigungen natürlich – zu lesen, ich sei »bestens geeignet für eine sekundäre Rolle«.
    Das schmerzte.
    Man unterschätzt mich, finde ich. Man unterschätzt meine Beharrlichkeit.
    Die Bürgersteige der Rathmines Road sind gestreut und freigetreten. Es sind nicht viele Autos unterwegs, aber die Busse verkehren und lassen auf beiden Seiten der Straße schmutzige Matschmoränen zurück.
    Ich überquere die Observatory Lane, eine Reihe von Einkaufsbuden, Blackberry Lane. Die Rugbyplätze vor St. Mary’s College sind mit Schnee überladen. Die Wolken haben sich verzogen, der Himmel ist weit und blau, die grüne Kuppel der Kirche von Rathmines trägt noch immer eine weiße Haube. Unter der Brücke der schnurgerade Durchstich des Kanals, sein schwarzes Wasser spiegelt das Eis an den Ufern, und als meine Traumstiefel mich in die Dubliner Innenstadt tragen, bin ich froh über die frische Luft. Ich erinnere mich an den ersten Aborigine, den ich gesehen habe, nach etwa einer Woche Aufenthalt in Sydney – wie unerhört schwarz er war und wie unerhört arm. Da reist man so weit, nur um zu erkennen, dass alles, wirklich alles wahr ist, genau wie mein Vater in seinen letzten Tagen gesagt hatte: Es ist genau, wie man es immer vermutet hat .
    Doch es war nicht verkehrt, dass wir Hoffnungen hatten, Conor und ich, damals während unserer Zeit in Australien. Und es ist auch jetzt nicht verkehrt, dass ich Hoffnungen habe – dass ich an Seán festhalte und ihn liebe und versuche, seine Tochter zu lieben.
     
    Sie steht wie verabredet an der Bushaltestelle und spricht in ihr Handy. Ich erkenne sie sofort, und danach sehe ich, was sie ist: ein Schulmädchen, das nicht allein eine Innenstadtstraße entlanglaufen darf – nicht einmal bei Schnee, wenn die Unholde, die Schulmädchen auflauern, gewiss andere Sorgen haben. Am liebsten würde ich einen mit ihr trinken gehen. Am liebsten würde ich ihr sagen,
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