Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Anastasija 01 - Auf fremdem Terrain

Anastasija 01 - Auf fremdem Terrain

Titel: Anastasija 01 - Auf fremdem Terrain
Autoren: Alexandra Marinina
Vom Netzwerk:
seinem jungen Partner Bert Kling. Gegen zehn Uhr bekam sie Hunger, sie legte die Übersetzung beiseite und schaltete den Wasserkocher an. Es klopfte an der Tür. Herein kam die Nachbarin, in der Hand eine bunte Schachtel.
    »Sie haben kein Abendessen gehabt, Sie machen Pause und möchten einen Tee. Oder einen Kaffee? Hab’ ich recht?«
    »Stimmt genau.« Nastja lächelte. »Leisten Sie mir Gesellschaft?«
    »Sehr gern.« Regina Arkadjewna ließ ihr Gewicht auf einen Stuhl fallen und lehnte ihren Stock an die Wand. »Ich habe sogar Kekse mitgebracht und auf eine Tasse Kaffee spekuliert. Aber behalten Sie im Kopf, meine Liebe, ich besuche Sie zum ersten und zum letzten Mal.«
    »Wieso das?«
    »Weil Sie jung sind, Nastjenka, und außerdem vielbeschäftigt. Meine Besuche könnten Sie verärgern, ich mag es nicht, wenn man mich nur aus Höflichkeit erträgt. Sie werden rot? Hab’ ich also recht. Darum lernen wir uns heute einfach nur kennen, und in Zukunft werden Sie selbst entscheiden, ob und wann Sie zu mir hinüberkommen.«
    Nastja goß heißes Wasser in die Tassen und blickte der Alten offen ins Gesicht. Bei der mußte man offenbar nicht um den heißen Brei herumreden.
    »Sie sind eine scharfe Beobachterin, Regina Arkadjewna«, meinte Nastja ruhig.
    »Ach, wo denken Sie hin, mein Kind, ich habe einfach nur genug Lebenserfahrung. Woran arbeiten Sie übrigens? Ich sehe Wörterbücher. Sind Sie Übersetzerin?«
    »Ja«, log Nastja ohne zu zögern. Schließlich wäre es dumm gewesen, sich über die Arbeit bei der Kripo auszulassen, außerdem stand sie, was ihre Qualifikation betraf, den professionellen Übersetzern keineswegs nach.
    »Welche Sprache?«
    »Englisch, Französisch, Spanisch, Italienisch, Portugiesisch.«
    »Oho!« Regina Arkadjewna staunte. »Sie sind ja richtig polyglott. Wie haben Sie das geschafft? Sind Sie im Ausland aufgewachsen?«
    »Aber nein. Ich lebe seit jeher in Moskau. Im übrigen ist das gar nicht schwer. Man muß nur eine Sprache wirklich gut beherrschen, dann fällt es mit jeder weiteren immer leichter. Wirklich.«
    Nastja hatte nicht gelogen. Sie konnte alle fünf Sprachen wirklich gut. Ihre Mutter, Frau Professor Kamenskaja, war eine bedeutende Spezialistin für die Entwicklung von Programmen für den computergestützten Fremdsprachenunterricht. Das Erlernen einer neuen Sprache war zu Hause genauso selbstverständlich und alltäglich gewesen wie Bücherlesen, Reinemachen oder Kochen. Französisch beherrschte Nastja seit sie sprechen konnte. Später, mit ungefähr sieben, war Italienisch an der Reihe gewesen, und danach waren Spanisch und Portugiesisch nur noch ein Kinderspiel. Englisch hatte Nadeschda Rostislawowna für die Schule übriggelassen, da sie es für am leichtesten hielt (weil die Substantive kein Genus kannten und die Verben nur minimal konjugiert wurden). »Vor allem mußt du lernen«, hatte sie der Tochter eingeschärft, »automatisch die Artikel anzuwenden und die Verben ›sein‹ und ›haben‹ zu gebrauchen. Das ist der größte Unterschied zum Russischen. Der Rest ist Technik und Pauken.«
    Der Mutter war es nicht nur gelungen, Nastjas Talent für Fremdsprachen zu entwickeln, sondern auch, bei ihr ein leidenschaftliches Interesse daran zu wecken. Jedenfalls hatte Nastja von sich aus mit großem Spaß die Grundlagen von Grammatik und Lexik gebüffelt, als eine Art Gedächtnistraining und, wie sie selber sagte, zur Förderung des analogen Denkens.
    »Was übersetzen Sie denn da? Wissenschaftliche Literatur?« fragte die Zimmernachbarin neugierig.
    »Nein, einen Kriminalroman. Sehr spannend.«
    »Wirklich?« Regina Arkadjewna blickte Nastja ein wenig verwundert an. »Ich hätte nie gedacht, daß Ihnen Krimis gefallen.«
    »Warum denn nicht? Krimis sind ganz tolle Literatur«, entgegnete Nastja.
    »Schon möglich, kann sein«, meinte Regina Arkadjewna nachdenklich. »Ich dachte nur, Sie hätten einen anderen Geschmack. Habe ich mich eben getäuscht. Eine junge Frau wie Sie, gebildet, intelligent, fleißig, nicht belastet von solchen Problemen wie Sex . . . Sie müßten eigentlich Sartre mögen, Hesse, Carpentier, vielleicht auch Camus. Aber doch keinesfalls Krimis. Nehmen Sie es einer alten Frau nicht übel, vielleicht habe ich ja eine falsche Vorstellung von Kunst. Sehen Sie, ich habe ein ganzes Leben lang an einer Musikhochschule unterrichtet, die Klavierklasse. Inzwischen bin ich natürlich in Rente, doch ich habe noch Privatschüler. Man sagt mir nach, ich sei eine
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher