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An den Rändern der Zeit (German Edition)

An den Rändern der Zeit (German Edition)

Titel: An den Rändern der Zeit (German Edition)
Autoren: Antje Ippensen
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Junge, runzle deine hübsche Stirn. Hast du
denn alles dabei, was du brauchst? Schal, Mütze, Ohrenschützer?“
    Er stöhnte. Sie konnte ihn ganz zuverlässig damit
ärgern, wenn sie sich wie seine Mutter aufführte. Und schon erschienen jene
drei Furchen zwischen seinen Augen, und Casimiria kicherte noch mehr. Hohl
klang es von den vier kahlen Garagenwänden wider, dann brach es ab.
    „Dreh dich um, du bist schön genug.“
    „Wirklich?“, sagte er lebhaft. Und er wirbelte geziert
herum, beide Arme ausgebreitet.
    „Also, du siehst einfach …“, sie brach ab, als suchte
sie nach dem schmeichelhaftesten Wort, „minderjährig aus!“
    „Also wirklich, Casimiria!“ Er war beleidigt. „Waren
wir uns nicht einig, dass ich ein frühreifer Bursche bin und niemand mein
richtiges Alter herausfinden kann?“ (Er war siebzehn.) „Hör mal, ich will, dass
du niemanden hereinlässt, während ich weg bin, klar? Geh sofort unter Deck und
sei brav.“ Er schlug den freundlich-neckenden Ton an, den sie mochte, doch zu
seiner Verwunderung stellte er fest, dass ihr Blick sich trübte. Hing wohl mit
ihrer spinnerten „Vision“ zusammen, dem angeblich prophetischen Traum, dachte
er.
    Varian war von sich selbst überrascht, als er sich
spontan zu ihr herabbeugte und über Casimirias riesige Stirn strich – wie immer
ein Gefühl, als würde er ein Wellblechdach streicheln, das verziert war von
einzelnen farblosen Locken. Sie sah mit ihren empfindsamen, wieder klar
werdenden Augen zu ihm auf.
    Ihre Ohren waren sogar noch sensibler, und er hatte
sich mühsam angewöhnt, sie niemals anzuschreien. Ja, durch sie war er
eigentlich recht zimperlich geworden, und manchmal fand er das schon lästig.
    Kaum zu glauben, dass sie bei ihrer Empfindlichkeit
die Jahre im Bizarren Zirkus überlebt hat, dachte er wie schon so oft. Und
vorher, die Jahre im Labor, über die sie kaum sprach. Damals hatte sie noch
laufen können, bevor ihre – Füße unbrauchbar geworden waren.
    Casimiria bemerkte, wohin sein Blick glitt, und zuckte
unmerklich zusammen. Varian – er ist mehr als mein Freund, er ist mein
Junge, mein Bruder, mein Mann, er holte mich aus meinem Kerker, aber ich bin
nicht geheilt.
    In letzter Zeit begann er sie als Last zu empfinden,
das spürte sie. Verfluchte Empathie! – Nur zwei Dinge hielten ihn
offensichtlich davon ab, sie zu verlassen: einmal diese sonderbaren Reisen, auf
denen er sicher genügend Frauen fand, Abwechslung und Abenteuer – und zum
anderen sein unbändiger Stolz auf die einzige selbstlose Tat seines Lebens.
    Anfangs hatte sie ihn vieles lehren können, was er
gierig wie ein Schwamm in sich aufsaugte, zum Beispiel die gepflegte
altertümliche Sprache des Labors. Aber sie waren so verschieden, er und sie.
    Es sind nicht meine – Füße. Da ist er sehr
tolerant, erstaunlicherweise.
    Varian hing seinen eigenen Gedanken nach, während er
Casimiria streichelte.
    Es ist ganz gut, dass sie nicht weiß, wohin oder
besser: auf welche besondere Art und Weise ich zu reisen pflege. Vermutlich
ahnte sie manches und konnte sich das eine oder andere zusammenreimen, aber das
GANZE verschleierte er sorgfältig vor ihr. Sie war viel zu moralisch, sie würde
das nicht billigen.
    Seine Casimiria! Echt, er mochte sie. Fand sie süß im
Bett; kochen konnte sie auch; sie schuf ihm ein Heim und war außerdem klug und
belesen.
    Er gab ihr einen Kuss, irgendwo zwischen Zärtlichkeit
und Abwesenheit, und wieder fühlte sich Casimiria fast schon ausgelöscht wie
ein Kerzenstummel, dessen schwach flackerndes Flämmchen zerdrückt wurde von
lässiger Hand.
    Aber sie spürte seine Lippen auf den ihren.
    Es gab nichts mehr zu sagen. Varian nahm seine
Reisetasche und ging. Ein bleifarbener Frühmorgen empfing ihn nach der
metallenen Düsternis der Garage. Noch vor Erreichen seines Zuges würde er
Casimiria vollkommen vergessen haben. So war es immer.
     

Abschnitt 2
     
    Omega 7 war stolz auf seinen blutroten Tag und seine stahlblaue
Nacht, vor allem auf den Wechsel zwischen ihnen beiden, obwohl dieses Phänomen
nur mühsam verschleiern konnte, dass Omega 7 überhaupt keine Zeit besaß,
sozusagen. Niemand wurde älter, obgleich es bestimmt eine Möglichkeit gegeben
hätte, auch das vorzutäuschen. Es war nicht programmiert. Es wurde auch niemand
geboren, niemand wuchs heran. Wer da war, war es schon immer gewesen, wer nicht
da war, würde es auch niemals sein.
    In den tiefen omeganischen Höhlenlabyrinthen schien
die nicht vorhandene Zeit
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