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An den Rändern der Zeit (German Edition)

An den Rändern der Zeit (German Edition)

Titel: An den Rändern der Zeit (German Edition)
Autoren: Antje Ippensen
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da wieder nicht. Und noch
seltsamer: Es scheint gar nicht aufzufallen.
    Die fremde Stimme: Das hört sich aber alles
furchtbar trist an, Liebste.
    Sanftes Murmeln, es macht mich ganz nervös.
    Na gut. Wie wäre es zur Abwechslung mit etwas
Positivem? In der Augenwelt gibt es keine Blinden mehr! ALLE können sehen, ist
das nicht großartig?! Auf andere Gebieten stockt der Fortschritt, ist die
Medizin mehr als ratlos – zum Beispiel lässt sich die Überbevölkerung nicht in
den Griff kriegen – aber jede Form von Blindheit ist heilbar geworden. Im
schlimmsten Fall können die Leute nur über ihren kleinen Augencomputer sehen,
und natürlich sehen sie meistens wiederum in Computer hinein, so dass sich
einwenden ließe, das Ganze sei nichts weiter als ein Triumph der Virtualität.
Doch trotzdem: alle sind SEHEND. Ist das etwa nichts?
    Die körperlose Stimme schweigt. Nicht einmal ein
Beifallsflüstern kommt von ihr.
    Ich atme auf. Denn wenn du Stimmen aus dem Ohrland
hörst, kannst du ziemlich sicher sein, dass du Halluzinationen hast. Ja, die
gibt es noch.
    Ob aber das Ohrland wirklich existiert?
    Ein sonderbarer Mythos ist es, der auch durch die
unzähligen virtuellen Netze der Augenwelt geistert: Irgendwo in einem fernen
Ozean mit einem höchst merkwürdigen Namen soll das Ohrland liegen, entrückt im
Mondlicht, perlsmaragdgrün schimmernd, wie eine Spirale geformt, tagsüber
beschützt von einer großen freundlichen Fledermaus, die ihre Flügel um das Land
faltet.
    Wer mag sich das nur ausgedacht haben?
     
    „Jeder lebt in seiner eigenen Zeit“, lautet ein
populär-banales Sprichwort in der Augenwelt.
    Ach, wirklich?
    Hm.
    Dass ihr euch da mal nicht täuscht – Freunde.
     

Abschnitt 1
     
    Im Vorort Grüne Straße, der nicht im Mindesten grün
war, sondern grau in grau, wie alle Vororte, beobachtete Casimiria schweigend
ihren Freund und Retter Varian, der sich zur Abreise fertigmachte. Tief in
ihrer Seele stak ein klammes und dunkles Vorgefühl, das mehr war als Angst.
    Sie wusste, dass er nicht an Empathie glaubte –
absolute Einfühlsamkeit war ihm ein nutzloses, irreales Ding, es sei denn, man
konnte damit andere Menschen manipulieren – und noch weniger glaubte er an
schlechte Vorahnungsträume. In irgendeinem medizinischen Ratgeber hatte er
gelesen, dass sie auf zu viel Magensäure zurückzuführen seien. Wenn sie ihm nun
also erzählte, dass sie eine verschlüsselte Nachricht empfangen hätte, würde er
zuallererst zum Computer stürzen, um die eingegangenen E-mails zu überprüfen.
Weil er alles wörtlich nahm.
    Wenn sie ihm dann erklärte, sie habe von sterbenden
Walen und von einer Formel mit der Konstanten X geträumt, was ganz sicher
bedeutete, dass ihm auf seiner Reise etwas zustoßen würde …
    „Was hast du gestern Abend gegessen, Schatz?“ Genau
das würde er entgegnen. Sie hörte schon sein wegwerfendes Lachen.
    Ich weiß, es klingt verrückt. Sie probierte das
als Einleitungssatz und schüttelte gleich darauf den Kopf.
    „Ist was?“, fragte Varian und warf ihr einen schnellen
Blick zu.
    Sie schwieg, und er setzte eilig hinzu: „Hast du denn
alles, was du brauchst?“
    „Ja“, antwortete sie, und dann fiel es doch in Stücken
aus ihr heraus. „Geh nicht. Es wird. Ein schlechter. Trip werden. Kann es. Spüren.“
Sie atmete schwer.
    Varian unterdrückte einen ungeduldigen Seufzer – das
war überdeutlich – und fuhr dann fort, als hätte sie überhaupt nichts gesagt.
„Kekse? Enzianwasser? Salbeibonbons?“
    „Die grünen“, erwiderte Casimiria vorwurfsvoll.
    „Sie hatten keine blauen mehr.“
    Eisen- und Rostschatten beherrschten die spärlich
beleuchtete Garage. Hier reparierte der begabte Varian die Elektroautos, die
man ihm brachte, denn einen legalen Tarnjob brauchte jeder Gauner.
    Varian stellte sich wieder vor den Spiegel und band
seinen kupferfarbigen Pferdeschwanz noch einmal neu, prüfte sein
glattrasiertes, längliches Gesicht – da! Ein Mitesser? Nein, doch nicht – und
riss sich ein Augenbrauenhaar aus, das unbotmäßig lang hervorgewachsen war, ein
Käferbein.
    Der Rollstuhl surrte, und Casimiria näherte sich von
hinten, so dass ihr Bild in den Spiegel hineinwuchs. In letzter Zeit stand es
mit ihrem Mut nicht zum Besten. Aber Vary ist sehr schlau, er hat schon
Hunderte von gefährlichen Trips überstanden. Er braucht das, ich kann ihn hier
nicht einsperren. Schlimm genug, dass ich mich selbst hier einsperre. Plötzlich
lachte sie leise. „Komm, mein lieber
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