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Amsterdam

Amsterdam

Titel: Amsterdam
Autoren: Ian McEwan
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wandte er sich zu Lanark.
    »Neulich habe ich auf einer Liste hochverdienter Persönlichkeiten Ihren Namen gesehen. Richter, Polizeipräsidenten, erstrangige Geschäftsleute, Kabinettsmitglieder…«
    Lanark errötete vor Freude. »All das Gerede über eine Erhebung in den Ritterstand ist doch völliger Unsinn.«
    »Sie sagen es. Es geht nämlich um ein Kinderheim in Wales. Ein Ring von Pädophilen der besten Gesellschaft. Beim Ein- und Ausgehen sind Sie ein halbes dutzendmal auf Video aufgenommen worden. Bevor ich gefeuert wurde, wollten wir einen Artikel darüber bringen, aber ich bin sicher, daß jemand anderes die Sache weiterverfolgen wird.«
    Mindestens zehn Sekunden lang blieb Lanark aufrecht stehen, reglos, mit militärischer Würde, die Ellbogen an den Leib gepreßt, die Sektgläser von sich gestreckt, die Mundwinkel zu einem mühsamen Lächeln gefroren. Das einzige Warnsignal waren seine glasigen Stielaugen und eine wellenartige Aufwärtsbewegung in seiner Kehle, eine umgekehrte Peristaltik.
    »Vorsicht!« rief Vernon. »Zurück!« Sie vermochten sich eben noch in Sicherheit zu bringen, als sich der Inhalt von Lanarks Magen in hohem Bogen aus seinem Mund ergoß. Plötzlich herrschte Stille in der Galerie. Dann wogte die gesamte Streichergruppe mitsamt Querflöten und Pikkolo in einem ausgedehnten, absteigenden Glissando des Ekels zu den Blechbläsern hin und überließ den Musikkritiker und seine Unschicklichkeit – frühabendliche Pommes frites mit Mayonnaise auf der Oude Hoogstraat – der Beleuchtung [198]  durch einen einsamen Lüster. Clive und Vernon wurden von der Menge fortgerissen, und erst als sie zur Tür gelangten, konnten sie sich frei machen und in die Ruhe des Foyers hinaustreten. Sie setzten sich auf eine gepolsterte Bank und schlürften weiter ihren Champagner. »Besser als eine Ohrfeige«, sagte Clive. »War denn etwas Wahres daran?«
    »Ursprünglich hatte ich es nicht geglaubt.«
    »Noch einmal: Prost!«
    »Prost. Und hör mal, was ich gesagt habe, ist ernst gemeint. Es tut mir aufrichtig leid, daß ich dir die Polizei auf den Hals gehetzt habe. Mein Benehmen war abscheulich. Ich bitte dich vorbehaltlos und unterwürfigst um Entschuldigung.«
    »Nicht der Rede wert. Tut mir schrecklich leid, die Sache mit deiner Stelle und alldem. Du warst wirklich der Beste.«
    »Geben wir uns die Hand darauf. Wir sind wieder Freunde.«
    »Freunde.«
    Vernon leerte sein Glas, gähnte und stand auf. »Also, wenn wir gemeinsam zu Abend essen wollen, lege ich mich noch kurz aufs Ohr. Ich bin völlig geschafft.«
    »Du hast eine anstrengende Woche hinter dir. Ich glaube, ich nehme ein Bad. Dann sehe ich dich also in etwa einer Stunde hier unten?«
    »Abgemacht.«
    Clive sah zu, wie Vernon davonschlurfte und sich den Zimmerschlüssel aushändigen ließ. Am Fuß der großen Doppeltreppe standen ein Mann und eine Frau, die Clives Blick erwiderten und ihm zunickten. Einen Augenblick [199]  später folgten sie Vernon die Treppe hinauf, und Clive drehte ein paar Runden im Foyer. Dann ließ er sich seinen eigenen Schlüssel geben und ging auf sein Zimmer.
    Wenige Minuten später stand er barfuß, ansonsten aber völlig angekleidet im Badezimmer und beugte sich über die Wanne. Er versuchte, den schimmernden vergoldeten Hebel zu betätigen, mit dessen Hilfe man das Abflußloch zustöpselte. Dieser mußte gleichzeitig angehoben und gedreht werden, und Clive schien nicht dahinterzukommen. Unterdessen gab ihm der beheizte Marmorboden durch seine Fußsohlen hindurch ein Gefühl sinnlicher Mattigkeit ein. Schlaflose Nächte in South Kensington, Chaos auf der Polizeiwache, Ehrungen im Concertgebouw: auch er hatte eine anstrengende Woche hinter sich. Also ein kurzes Nickerchen vor dem Bad. Wieder im Schlafzimmer, stieg er aus seiner Hose, knöpfte sein Hemd auf und ließ sich mit einem wohligen Stöhnen auf das riesige Bett sinken. Die Tagesdecke aus goldenem Satin liebkoste seine Schenkel, und er empfand die Ekstase erschöpfter Selbstaufgabe. Es stand alles zum besten. Bald würde er bei Susie Marcellan in New York zu Besuch sein, und jenes vergessene, zu kurz gekommene Teil von ihm würde zu neuem Leben erweckt werden. Wie er so dalag auf der seidigen Pracht – selbst die Luft in diesem kostspieligen Zimmer fühlte sich seidig an –, hätte er sich in angenehmer Vorfreude am liebsten hin und her gewunden, hätte es ihm nur nicht soviel Mühe bereitet, die Beine zu bewegen. Wenn er sich anstrengte, wenn er eine
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